15.000 Menschen laufen Sonntag 42,2 Kilometer quer durch Hamburg. Sie werden Schatten- und Schokoladenseiten sehen. Eine Stadterkundung in Wanderstiefeln mit Matthias Iken.

Am Anfang ist der Platz. Wüst und leer liegt er da zu Füßen des Fernsehturms. Wo am Sonntag rund 30.000 Beine dem Schuss entgegenwippen, sich entgegendehnen – ja entgegensehnen, verirrt sich sonst kaum ein Läufer hin. Es ist zugig, der Wind pfeift, vorbeirasende Paketdienste hupen verzögerte Rechtsabbieger von der Karolinenstraße. Hier beginnen 42,2 Kilometer Hamburg, am Sonntag für 15.000 Läufer die Herausforderung Marathon – für mich ein Spaziergang.

Symbolischer könnte weder ein Marathon beginnen noch eine Wanderung. Der erste Blick fällt auf die Gnadenkirche – und beantwortet zugleich die Frage, was passiert, wenn der Glauben schwindet. Zwischen 1905 und 1907 erbaute die evangelische Kirche das Gotteshaus. Die Gemeinde überlebte Straßenplaner, die den Bau mit Verkehrsschneisen einschnürten, den Verlust des Glaubens aber nicht: 2007 entwidmete die nordelbische Kirche den Sakralbau und reichte ihn an die wachsende orthodoxe Gemeinde weiter.

An einer Kirche sollten sich weder Läufer noch Flaneure zu lange aufhalten. Die Marathon-Strecke bietet Impressionen im Übermaß: beispielsweise zehn Kirchen, rund 100 Kneipen, sechs Tankstellen und drei Radkappen, die den Weg durch die Hansestadt säumen. Marathon-Läufer müssen die Dinge an sich vorbeirauschen lassen, Spaziergänger dürfen die Mosaiksteine zu einem Gesamtkunstwerk zusammenfügen. Dem Gesamtkunstwerk Hamburg.

Dafür sind die 42 Kilometer gut gewählt – sie zeigen die Schokoladenseiten der Schönen an Elbe und Alster wie die Brüche der Stadt, pulsierendes Leben wie Mahnmale des Sterbens. Sie beginnen bunt, fast schrill. Auf dem Heiligengeistfeld lärmt mal wieder der Dom, schon eine Kurve weiter geht es auf die Reeperbahn. Was nachts um halb eins ein unsterblicher Mythos ist, liegt morgen um halb zehn entzaubert und ungeschminkt da. Das Verruchte wirkt beim Blick in die Schaufenster rasch ordinär, das Amüsement schrumpft zum Remmidemmi, die Sünde zum Marketinggag. Was soll an einer Fischbude „sündig“ sein – die Zwiebel oder der Bismarckhering? Selbst der Sex wird zur Spielart des Entertainments, sprachlich erinnern die Schriftzüge an den Marathon: „Live-Show“ oder „Laufhaus“ passen zu beiden. Nein, schön ist die Reeperbahn nicht. Als Motivationshilfe grüßen die Hafenkräne scheu durch die Davidstraße – sie werden aber erst in zehn Kilometern zum Greifen nah sein.

Ein kurzer Blick auf den Beatles-Platz, der nur eine flüchtige Erinnerung an den Beginn der Weltkarriere der „Fab Four“ im Star-Club ist, dahinter zieht die Große Freiheit vorüber. Schon hat man die zweite von vermeintlich 33 Sehenswürdigkeiten passiert, die die offizielle Marathon-Seite empfiehlt. Ein mögliches Weltkulturerbe, das sich hinter einem schwarzen Zaun wegduckt, taucht dort nicht auf: der jüdische Friedhof in Altona, den ich vor Kilometer 3 passiere, und ein stummer Zeuge der Geschichte ist.

Die Königstraße kennt nur noch einen König – das Auto. Wo einst das alte Rathaus Altonas stand, ist heute eine Tankstelle, eine vierspurige Schneise verbindet St. Pauli mit Ottensen. Trist ist es dort, am auffälligsten springen die Werbetafeln und Litfaßsäulen ins Auge, als würde dort um die Gunst der Läufer geworben: „Schneller, besser fernsehen“ heißt es da für eine Zeitschrift, Schuhhersteller versprechen: „verführt das Auge, verführt den Fuß“. Selbst die Musicals kommen heute sportlich daher; kiffende Langhaarige („Hair“) waren gestern, heute tanzen Boxer („Rocky“), singen Dschungelmenschen („Tarzan“). Auf dem Grünstreifen sind Mitarbeiter der Straßenreinigung beschäftigt, den Zivilisationsmüll aufzupicken. Hamburg putzt sich heraus. Für den Marathon? „Nö“, murmelt der Mann. Aus Prinzip? „Muss ja“, entgegnet er. Hanseaten schweigen bei der Arbeit.

Hinter der Max-Brauer-Allee wird die Straße schmaler, ich dringe in das Herz von Ottensen, die Stadt gewinnt an Charme, schrumpft auf ein menschliches Maß. Viele Altbauten sind nur zweistöckig, Balkone öffnen sich zur Straße, kleine Läden und Kneipen bringen Vielfalt. Es bedarf weniger Zutaten für ein „In-Viertel“.

Düstere Gedanken beschleichen den Läufer noch vor Kilometer 5 - der Friedhof an der Bernadottestraße ist schon der zweite Gottesacker auf der Strecke und mag an das Ende irdischen Strebens erinnern. Der erste Marathon endete tödlich, zumindest der Legende nach. Der Bote brach, nachdem er den Sieg in der Schlacht von Marathon verkündet hatte, tot zusammen. Auch in der Geschichte des Hamburg-Marathons starben zwei Sportler an den Strapazen. Und seit dem vergangenen Montag, als Terroristen den Boston-Marathon heimsuchten, fällt noch ein Schatten auf das Sportfest. Doch die Sehnsucht nach Freiheit ist stärker als die Angst. Jetzt erst recht.

In den Elbvororten, den Stadtteilen hanseatischen Bürgerstolzes, hält sich der Marathon nicht besonders lange auf. Ich trabe gemächlich durch das Vorstadtidyll, bevor am Halbmondsweg der Lauf seinen Kurs radikal ändert – über die Elbchaussee geht es zurück in die Stadt. An der ersten Wasserstation, nach 7,5 Kilometern, zeigt Hamburg seine Wasserseite. Unterhalb des Schröderschen Elbparks glänzt der Strom im Sonnenlicht, eröffnen sich berauschende Blicke auf den Hafen. Oberhalb rauscht der Verkehr – die nach Detlev von Liliencron „schönste Straße der Welt“ ist eine der meistbefahrenen Hamburgs. Und an einigen Stellen missinterpretieren Raser die blauen Streckenmarkierungen des Marathons als Fahrbahnbegrenzungen, plötzlich zwängen sich zwei Fahrzeuge nebeneinander. Einen Crashkurs in Sachen Hamburg-Politik geben die Graffiti an den Rainvilleterrassen. Hier entstehen anstelle der alten Seefahrtschule neue Luxuswohnungen. Die Projektierer schwärmen von „modernem urbanen Leben“ im „schönen Ottensen“, die Gegner haben auf die Werbeplanen „Fuck Yuppies“ gepinselt. Soziologen nennen es „Gentrifizierung“.

Der Marathon überbrückt derlei Gräben zumindest für wenige Stunden – in kurzen Hosen sind Unterschiede zwischen Stütze oder Schweizer Konto nicht sofort erkennbar, am Straßenrand jubeln Altlinke und Neureiche gemeinsam. Im Restaurant Seeteufel, nur einen Steinwurf entfernt, ist es so. Bei Inhaberin Evi Subbert treffen sich alle an der Theke. Eigentlich öffnet der Seeteufel erst um 20 Uhr; am Marathon-Sonntag aber ist alles anders. „Dann wird um 8 Uhr aufgesperrt“, sagt Subbert, die in diesem Jahr ihren 25. Marathon begeht. Sie erinnert manchen Sonntag, an dem sie nach einer langen Nacht im Seeteufel gar nicht schließen musste. „Ich bin hart im Nehmen.“ Für die Fans gilt das Gleiche – sie bejubeln die Läufer erst im Lokal „Alt-Ottensen“ und bummeln dann mit Rasseln und Tröten südwärts, zu Evi. Erlaubt ist, was Krach macht. Bei ihr kommen meist 25 Stammgäste und Nachbarn zusammen; an der gesamten Strecke sollen es Schätzungen zufolge eine Million Menschen sein. Ganz genau kann es keiner sagen. Inoffiziell gilt der Hamburger Marathon als der bestbesuchte Wettbewerb der Welt.

Bei Läufern ist er wegen der Atmosphäre und der Abwechslung beliebt. Der Hamburger Marathon ist ein Meister der Metamorphose – was heute wie die Breite Straße öde Rennbahn ist, verwandelt sich am Sonntag in eine bunte Rennstrecke. Der Hafen hingegen verstummt am Wettkampftag zur Fototapete. Wenn die Läufer kommen, dringt kein Lärm mehr von den Blohm+Voss-Docks auf die andere Elbseite herüber, kein Laut von den Dieselmotoren der Bügeleisen-Schiffe. Dafür bietet die Hafenstraße Augenfutter in barockem Ausmaß: rechts die Docks, die Landungsbrücken, der Alte Elbtunnel. Links die Bausünden der vergangenen Jahrzehnte von Parkhäusern mit Elbblick bis zu quadratisch praktisch schlechten Investorenungetümen. Und mittendrin die Hafenstraße mit ihren knallbunten Fassaden und durchgeknallten Sprüchen. „Jedes Herz ist eine revolutionäre Zelle“ – gilt das eigentlich auch für Sportlerherzen?

Oben auf dem Geesthang gilt es eines der größten Marathon-Rätsel zu ergründen. Dort residiert der Deutsche Wetterdienst. Seit 1986 findet der Marathon statt – und das Wetter war immer gut. Zumindest kann sich keiner an Regen erinnern, aber alle an sonnige Feier-Tage. Da die Termine beweglich sind, haben die Organisatoren wohl einfach nur Glück. „Anders lässt es sich eigentlich nicht erklären“, sagt Hans-Joachim Müller, Diplom-Meteorologe. Seit Tagen verfolgt er, dass auch 2013 der Trend hält – es soll am Sonntag trocken bleiben. Der vermeintlich unbeständige April arbeitet an seinem Ruf.

Über den Baumwall schlendere ich der Elbphilharmonie zu, doch kurz vorher zwingen mich die blauen Striche, scharf links abzubiegen. Hamburgs ehrgeiziges Städtebauprojekt, die HafenCity, bleibt für die Läufer ein unbekanntes Land. Er sieht leider nur den Riegel des Hanseatic Trade Centers, der Forschergrößen für Mittelmaß missbraucht. Die Häuser heißen Amundsen, Vespucci, Humboldt oder Columbus, aber wirken wie Wanne-Eickel oder Castrop-Rauxel. Die Immobilienbranche – das zeigen 42 Kilometer Hamburg – bringt erstaunliche Sprachschöpfungen hervor. Ein Projekt an der Palmaille heißt allen Ernstes Palma 92, und an der Alster wirbt ein Plakat mit dem Slogan: „Ihre neuen Nachbarn watscheln“.

Wem das Blut noch nicht in die Beine gelaufen ist, dürfte an der Brooksbrücke vor Kilometer 14 stutzen. Hier begegne ich Europa und Hammonia in seltener Eintracht. Vor sieben Jahren schuf der Künstler Jörg Plickat auf Initiative von Albert Darboven die beiden Skulpturen an der Stelle, wo bis zum Krieg Hammonia und Germania standen. Germania, so dachte man, werde nicht mehr gebraucht. Euro-Phorie zum Anfassen, sie ist selten geworden

An Kilometer 15 stoße ich als Wanderer an meine Grenzen. Anders als der Marathon-Läufer muss ich mir den Weg ohnehin mit rasenden Fahrradkurieren, träumenden Touristen und weggetretenen Smartphone-Nutzern teilen, am Wallring-Tunnel ist endgültig Schluss. Die Läufer werden tiefergelegt, der Flaneur bleibt an der Luft. So verpasse ich nicht das Angebot des Sporthauses, das die Krise des HSV spiegelt. „Für jeden Sieg 15 Prozent Rabatt“. „So viel du brauchst“, mahnt der evangelische Kirchentag vom Hauptbahnhof. Über allem thront ein Giacometti-Antlitz überlebensgroß an der Kunsthalle.

Hinter dem Tunnel trete ich in Hamburgs gute Stube ein, einmal rum um die Binnenalster. Den Ballindamm entlang, zwischen Schifffahrtskrise und Alsterbrise, dann den Jungfernstieg zwischen Luxustempel und Touristenkrempel. Und am Neuen Jungfernstieg ein Stück Dadaismus an der Deutschen Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften: „An den See/auf dem See/von dem See/an den See/grenzend an den See“ steht dort in blauen Lettern. Von da an bleiben 23 Kilometer zum Interpretieren. Nur so viel: Die Alster ist ein Fluss. Und was für einer – auf der Lombardsbrücke zeigt die Stadt dann ihre beste Seite: das Wasser, das Rathaus, die Hauptkirchen, eine perfekte Harmonie.

Verhaltener präsentiert sich die Natur. Die Krokusse sind gerade verblüht, die Schneeglöckchen liegen in den letzten Zügen, die Bäume stehen schwarz, nur die Weiden grünen. Und die Forsythien. Pflanzenbeobachter haben den 12. April als ersten Blühtermin ausgemacht – 2002 war es schon Mitte Februar so weit. Kein Laub nirgends. Der Frühling ist verdammt spät dran, der Marathon 2013 wirkt wie ein Winterlauf. Immerhin öffnet das immer wieder den Blick auf die Außenalster. Zu sehen sind viele Segler und noch mehr Jogger. Wäre der Marathon ein Unternehmen, die Alster wäre sein Standortvorteil. 7,4 Kilometer beste Laufstrecke im Herzen der Stadt, über weichen Boden am Wasser entlang. in diesen Momenten bemitleide ich die Marathonläufer: Sie laufen selbst an der Alster über Asphalt, 42237 Meter Stein um Stein. Es muss Leidenschaft sein.

Wie an der Schwanenwikbrücke. Hier hängen Hunderte Vorhängeschlösser als Liebesbeweis. Hendrik und Maria, Susi und Strolch, Göktan und Michelle. Der Trend aus Italien ist längst im Norden angekommen. Vor einem Jahr renovierte die Stadt die Brücke und brachte die Schlösser ins Museum, inzwischen ist sie längst wieder zugehängt. Bis zur Hälfte der Strecke, dem Kilometer 22, geht es über die ungewöhnlichste Straße der Republik. Herbert-Weichmann- und Sierichstraße überfordern jedes Navigationssystem: Zweimal täglich wechseln sie die Richtung. Von 4 Uhr morgens bis 12 Uhr mittags ist sie Einbahnstraße in Richtung City, mit Glockenschlag ändert sie ihre Richtung und verwandelt sich in eine Ausfallstraße. Auch Wanderer wie Marathonis stellt die Sierichstraße auf eine harte Probe – mit ihren Versuchungen: Die Hälfte ist noch nicht geschafft, aber die Lokale locken mit kühlen Getränken. Plakate verheißen Fußpflege, Massagen, einen Ruheraum – der Wanderer muss weiter. Noch über 21 Kilometer zu gehen …

Lesen Sie morgen den 2. Teil: Der Marathon – ein Spaziergang