Christian Gaudin, seit Juli Trainer der HSV-Handballer, spricht über seine Erfahrungen als Franzose in Deutschland und seine sportlichen Ziele

Hamburg. Auf der Geschäftsstelle des Handball-Sport-Vereins (HSV) Hamburg sucht Trainer Christian Gaudin, 47, einen Platz für das Gespräch mit dem Abendblatt. Im Konferenzraum wird gerade mit potenziellen neuen Sponsoren gesprochen, in den Büros nebenan unablässig telefoniert. Der einzige ruhige Ort in der Volksbank-Arena bleibt in diesem Moment die Kabine. Zwei Stunden vor Beginn des Nachmittagstrainings ordnet dort Teammanager Mirko Großer die gewaschenen Trikots. Vor dem Spind von Spielmacher Kentin Mahé kann das Interview beginnen. Gaudin hat sich dafür einen Milchkaffee aus der Küche mitgebracht und holt danach drei Stühle aus seinem Arbeitszimmer. Der Trainer wirkt entspannt. Nach zuletzt sieben Siegen in acht Bundesligaspielen steht der HSV auf Tabellenplatz fünf, was am Ende der Saison die erneute Qualifikation für den europäischen EHF-Pokal bedeuten würde.

Hamburger Abendblatt:

Monsieur Gaudin, laut einer aktuellen Umfrage auf verschiedenen Kontinenten ist Deutschland derzeit das beliebteste Land der Welt. Können Sie das als Franzose nachvollziehen?

Christian Gaudin:

Chapeau! Das ist ein bemerkenswertes Ergebnis und auch ein verdientes. Die Entwicklung, die Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg gemacht hat, ist einzigartig. Sie zeigt, dass die Deutschen fähig sind, sich zu hinterfragen und dann energisch anzupacken. Dazu kommt, dass die Menschen hier sehr präzise und strukturiert sind. All das hat dazu geführt, dass Deutschland heute wieder eine Grande Nation ist.

Es ist nicht das erste Mal, dass Sie in Deutschland leben. Sie haben sechs Jahre lang in der Bundesliga gespielt, waren zuletzt von 1999 bis 2003 Torhüter in Magdeburg. Wie hat sich Deutschland aus Ihrer Sicht seitdem verändert?

Gaudin:

Das kann ich schwer beurteilen. Aber was ich sagen kann, ist, dass Deutschland die Wirtschaftskrise sehr gut abgefangen hat. Dass es Deutschland in der Vergangenheit aufgrund seiner Geschichte nicht leicht hatte, hat das Land vielleicht am Ende stärker gemacht. Wirtschaftlich gesehen ist Deutschland sicherlich gerade ein Vorbild. Es sieht jedenfalls so aus, als ob das Land den richtigen Weg einschlagen und Lösungen für die aktuellen Probleme finden würde. Ob das am Ende wirklich so ist, wird sich vielleicht erst in der Zukunft zeigen.

Anders als bei Ihrem vergangenen Aufenthalt in Deutschland sind Ihre Frau und Ihre drei Söhne diesmal nicht mit dabei. Eine schwierige Situation für Sie?

Gaudin:

Eine Fernbeziehung bleibt immer eine Herausforderung. Aber wir konnten es dieses Mal nicht anders regeln. Mein zweitjüngster Sohn macht gerade Abitur in Frankreich, meine Frau ist verbeamtete Lehrerin. Und da ich beim HSV nur einen Einjahresvertrag habe, hätte es sich nicht gelohnt, dass alle herkommen. Deshalb ist alles natürlich etwas kompliziert. Seitdem ich hier bin, habe ich es erst zweimal nach Südfrankreich geschafft. Und bis Ende des Jahres wird es auch eng, weil wir viele Spiele haben, auch um Weihnachten. Zu den Feiertagen wird meine Familie nach Hamburg kommen. Viel Zeit werde ich aber auch dann nicht für sie haben, fürchte ich.

Kommt Ihre Familie nach, wenn Ihr Vertrag verlängert wird?

Gaudin:

Sollte das passieren, würde die Familie nach Hamburg ziehen, das ist unser Plan; bis auf meinen ältesten Sohn, der bei meinem alten Club St. Raphael gerade einen Profivertrag unterschrieben hat. Meine Frau könnte sich als Beamtin bis zu zehn Jahre beurlauben lassen. Das ist in Deutschland zum Glück ähnlich geregelt wie in Frankreich.

Sie leben jetzt seit vier Monaten in Hamburg. Wie gefällt Ihnen denn Ihre neue Heimat?

Gaudin:

Das, was ich bisher gesehen habe, gefällt mit sehr gut. Ich habe hier eine möblierte Wohnung in Altona. Das ist eine tolle Ecke zum Leben. Und es ist zentral gelegen. Ich brauche nur 15 Minuten zur Arbeit. Was mir generell gefällt, sind die Architektur, die Lebensqualität und dass es so viele unterschiedliche Viertel gibt, die für sich wie kleine Dörfer funktionieren. Da ist Hamburg wie Paris! Und wenn ich einmal in der Woche zum Olympiastützpunkt durch die Stadt entlang der Alster nach Dulsberg fahre, verstehe ich, dass die Hamburger sich in ihrer Stadt sehr wohlfühlen...

...wir sagen ja gern, dass Hamburg die schönste Stadt der Welt ist!

Gaudin:

...der Welt, wirklich (lacht)? Da wäre ich vielleicht nicht ganz so sicher. New York oder Paris sind ja auch nicht schlecht, oder? Aber die Pariser sagen ja auch, sie würden in der schönsten Stadt der Welt wohnen. Noch eine Ähnlichkeit. In dem Punkt sind Pariser und Hamburger wohl beide ein bisschen chauvinistisch.

Hamburg will sich um Olympische Sommerspiele bewerben? Halten Sie das auch für Größenwahn?

Gaudin:

Keinesfalls. Ich bin mir sicher, Hamburg wäre als Austragungsort Olympischer Spiele eine fantastische Wahl. Ich habe keine Zweifel, dass die Spiele hier perfekt organisiert, umgesetzt und mit Leben erfüllt werden könnten.

Was ist mit Berlin?

Gaudin:

Dort hat es ja schon mal Olympia gegeben. Auch deswegen wäre ich eher für Hamburg.

Und Paris? Frankreichs Hauptstadt könnte ja am Ende einer der Konkurrenten werden. Wenn Sie sich entscheiden müssten, wie fällt Ihre Wahl aus: Paris oder Hamburg?

Gaudin (lacht):

Ich würde mich freuen, Paris und Hamburg beim Internationalen Olympischen Komitee in der finalen Auswahl zu sehen. Und dann soll der Bessere gewinnen...

Stünden Sie als Botschafter für Hamburgs Olympiakampagne zur Verfügung?

Gaudin:

Wenn ich beim HSV bleibe, sehr gern. Ich müsste mich auch gar nicht verbiegen, ich könnte aus vollster Überzeugung für Hamburg werben.

Wie schätzen Sie die Sportbegeisterung in Deutschland ein?

Gaudin:

Die ist definitiv größer als anderswo. Die Deutschen identifizieren sich stark mit ihren Clubs, die Fankultur ist hier viel ausgeprägter. Als Fan, das habe ich mit Erstaunen registriert, nehmen die Menschen in Deutschland manchmal eine komplett andere Persönlichkeit an. Im normalen Leben ist da jemand beispielsweise Anwalt, läuft mit Krawatte und Anzug herum, und im Stadion trägt er dann Fankluft, hat einen Riesenhut auf und trinkt literweise Bier. In Frankreich wäre das eher unüblich. Die Fankultur hier hat etwas sehr Verbindendes, da sind alle gleich, egal wo man herkommt, welchen Beruf und wie viel Geld man hat. Das gefällt mir.

Und wie gefallen Ihnen Ihr Club und Ihre Mannschaft?

Gaudin:

Als ich im Juli hier ankam, war der HSV nach den Turbulenzen um die Lizenzvergabe klinisch tot. Jetzt sind wir wieder am Leben, entwickeln uns, auch wenn es weiter den einen oder anderen Rückschlag geben wird. Über die Spieler kann ich nur Positives sagen. Sie arbeiten absolut professionell, sie sind alle ungemein ehrgeizig, wollen besser werden, ziehen im Training voll mit. Das ist eine hervorragende Truppe. Aber ich habe ein schweres Erbe übernommen, was kein Vorwurf, nur eine Feststellung sein soll. Und das hat nicht nur damit zu tun, dass Weltklassespieler wie Domagoj Duvnjak und Joan Cañellas inzwischen für Kiel Tore werfen. Wir müssen jetzt neue taktische Lösungen suchen, haben beide nicht mehr, die immer zur Stelle waren, wenn es mal hakte. Bis die neuen Spielsysteme greifen, dauert es eine gewisse Zeit. Wir sind aber auf einem guten Weg.

Geschäftsführer Christian Fitzek will 2016 in der Bundesliga wieder um die drei Champions-League-Plätze mitspielen können. Ist das realistisch?

Gaudin:

Dafür bräuchten wir einen Plan, den haben wir bislang nicht. Im Dezember wollen wir über Details reden. Dann werden wir sehen, was realistisch ist.

Hängt von der künftigen Zusammenstellung des Teams Ihre Vertragsverlängerung ab?

Gaudin:

Nein. Ich würde gern bleiben und helfen, hier etwas aufzubauen. Das habe ich schon in St. Raphael getan. Aber ich bettele nicht um einen neuen Vertrag. Es muss für beide Seiten passen. Und wenn der HSV meint, ich sei nicht der Richtige für die Ziele des Vereins, dann gehe ich.

Sind Sie der Richtige?

Gaudin:

Meine Antwort darauf ist meine Arbeit.

Haben Sie den Eindruck, dass der HSV und seine handelnden Personen nach den erfolgreichen Zeiten der vergangenen acht Jahre in der neuen Realität angekommen sind?

Gaudin:

Das ist ein Prozess, aber ich bin mir sicher, dass hier jeder weiß, wo wir jetzt stehen. Wobei ich sagen muss, dass der HSV Handball immer noch ein großer Verein ist, der überall viel Respekt genießt. Das ist eine großartige Basis für erfolgreiches Arbeiten.

Wie sind Ihre sportlichen Vorstellungen?

Gaudin:

Wenn der Verein sagt, wir müssen weiter sparen, wir können nur mit Nachwuchsleuten arbeiten, kann das eine ebenso reizvolle Aufgabe sein, wie den Gewinn der deutschen Meisterschaft und der Champions League anzustreben. Natürlich ist es mein Ziel, mit dem HSV Titel zu holen. Unser jetziger Saisonetat (rund sechs Millionen Euro, die Red.) ist hoch genug, um künftig wieder oben angreifen zu können. Dafür bedarf es aber einer umsichtigen Personalpolitik.

Wie könnte die aussehen?

Gaudin:

Meine Philosophie lautet: Ein Drittel Talente, ein Drittel erfahrene Profis, die lange und mit Herzblut dem Club verbunden sind, die dem Verein ein Gesicht geben, und ein Drittel Spieler, die kurzfristig helfen können, die ausgegebenen Ziele zu verwirklichen.

Gibt es beim HSV diese Mischung?

Gaudin:

Wir arbeiten dran.