Der HSV-Handballer schuftet nach zwei Kreuzbandrissen für sein Comeback. Im Februar will der Rückraumspieler wieder dabei sein.

Hamburg. Abends nach dem Spiel ist es am schlimmsten. Wenn das Adrenalin aus dem Körper weicht, die Emotionen verfliegen und dem quälenden Gedanken Platz machen, ob er wohl jemals wieder richtig auf die Beine kommt. "Dann geht mein Kopf immer runter", sagt Oscar Carlén. Und es dauert jedes Mal eine ganze Zeit, bis er ihn wieder aufrichtet, um das Licht am Ende des langen Tunnels zu erspähen, durch den er gegangen ist. Carlén, 24, kann es schon ganz gut erkennen, klein und fern zwar noch, doch mit jedem Tag, an dem er ohne Schmerzen aufwacht, wird es ein bisschen größer. Aber er weiß auch, dass es ganz schnell wieder ausgehen kann. Und dann würde er es nie wieder zu Gesicht bekommen.

Am 7. Februar 2013 soll Oscar Carléns Leidenszeit enden. Dann will der Schwede im Champions-League-Spiel des HSV Hamburg bei Medwedi Tschechow zum ersten Mal nicht nur als Zuschauer dabei sein. Vielleicht sogar schon zwei Tage früher, wenn sich die Mannschaft für das Viertelfinale des DHB-Pokals qualifiziert. Der Anfang jenes Tunnels wird dann fast auf den Tag genau zwei Jahre zurückliegen. Am 9. Februar 2011 hat Carlén sein letztes Handballspiel bestritten, damals noch für die SG Flensburg-Handewitt. Es läuft die 13. Minute gegen Hannover-Burgdorf, als Carlén im rechten Rückraum den Ball bekommt. Er täuscht einen Sprungwurf an, landet und sackt ohne Fremdeinwirkung zusammen. Er wälzt sich, krabbelt wie ein Baby über den Hallenboden, aber er schafft es nicht mehr aufzustehen. Das Kreuzband und der Meniskus im rechten Knie sind gerissen.

Carlén weiß, was das bedeutet, oder besser, er glaubt es zu wissen: Operation, Rehabilitation, Comeback. Das Gleiche war ihm ja schon einmal mit dem linken Knie passiert. Damals war er 15 Jahre alt. Nach sechs Monaten stand er wieder auf der Platte, wie die Handballer ihr Spielfeld nennen. Aber diesmal wird alles anders. Carlén muss sich unplanmäßig ein weiteres Mal operieren lassen. Immer wieder schwillt das Knie an. Später wird man feststellen, dass eine Entzündung die Löcher für das Implantat aufgeweicht hat. Hinzu kommen Hüft- und Rückenprobleme, weil die Knieverletzung zu einer Fehlbelastung geführt hatte. Im September 2011, Carlén wähnt sich bereits kurz vor seiner Rückkehr aufs Spielfeld, passiert es: Bei einer simulierten Abwehrbewegung reißt das Band erneut.

"In diesem Moment dachte ich, es ist vorbei." Diese Angst, sagt Oscar Carlén, ist inzwischen, nach zwei weiteren Operationen und einem komplikationsfreien Heilungsverlauf, ein bisschen kleiner geworden. Aber sie ist immer noch da, und er weiß nicht, ob er sie jemals wird überwinden können. Er weiß nur, dass es seine letzte Chance ist: "Eine weitere Reha-Zeit würde ich nicht durchhalten. Dann müsste ich anerkennen, dass mein Körper nicht für Handball gemacht wäre."

Sich damit abzufinden wäre schwer, und es wäre auch schwer zu begreifen. Carlén ist ein 1,94 Meter langer Baumstamm von einem Mann mit einem Oberkörper, der mächtig genug ist, um jeden Gegenspieler dieser Welt einfach wegzurammen. Sein Vater Per, der 2011 als Trainer zusammen mit ihm nach Hamburg gekommen war und nach der Entlassung in seine Heimat zurückgekehrt ist, hat auf höchstem Niveau als Kreisläufer Handball gespielt, auch alle anderen Familienmitglieder sind sportlich aktiv oder sogar erfolgreich. Oscar Carlén kannte auf dem Feld immer nur eine Richtung: nach vorn, immer voll drauf, ohne viel Rücksicht auf sich und andere. Diese Spielweise hat ihn zu einem der besten Rückraum-Linkshänder der Welt gemacht.

Aber vielleicht ist sie ihm auch zum Verhängnis geworden. In Flensburg hat ihn sein Vater stets fast die vollen 60 Minuten in Abwehr und Angriff durchspielen lassen. Oscar Carlén würde sich das nicht noch einmal zumuten: "Ich würde auf jeden Fall weniger spielen wollen." Und er würde versuchen, seinen Eifer zu zügeln. Früher habe er immer 100 Prozent gegeben, nicht nur im Spiel, in jedem Training. Das war seit seiner Jugend in Ystad so, als er seinem Vorbild Kim Andersson nacheiferte. Heute sagt er: "Irgendwann geht der Körper davon kaputt."

An diesem Wochenende kann Carlén von alldem ein bisschen Abstand gewinnen. Das Reha-Training geht erst am Montag weiter. Und das Spiel des HSV beim Bundesliga-Tabellenletzten TuSEM Essen am Sonntag (17.30 Uhr) wird nicht im Fernsehen übertragen. Das erspart ihm das Gefühl, nicht wirklich Teil dieser Mannschaft zu sein. Er ist es noch immer nicht losgeworden, auch wenn er sich ansonsten gut integriert fühlt. Und es erspart ihm auch, danach wieder in ein emotionales Loch zu fallen und daran zu denken, wie es weitergeht. Auch finanziell. Die Verwaltungsberufsgenossenschaft hat bis Oktober 18 Monate lang 80 Prozent seines Flensburger Gehalts übernommen. Ein Antrag auf Verlängerung ist gestellt.

Kürzlich ist Carlén in eine ruhige Zweizimmerwohnung in der Nähe der Arenen am Volkspark gezogen, weg vom Trubel des Schanzenviertels, der ihm zu viel geworden war. Die Größe der Wohnung reiche völlig aus, zumal seine Freundin in Schweden lebt.

In seiner Heimat hat Oscar Carlén damit begonnen, sich eine zweite berufliche Existenz aufzubauen. Mit seinen Nationalmannschaftskollegen Tobias Karlsson und Patrik Fahlgren, mit denen er auch in Flensburg zusammenspielte, hat er eine Versicherungsagentur gegründet. Eine Wachstumsbranche, zumindest in Schweden, wo die private Vorsorge noch unterentwickelt ist. Ein Produkt hat Carlén bereits im Angebot: eine Unfallversicherung für Profisportler. Für sich selbst hatte er leider keine abgeschlossen.