Manuel Neuer wird als Torwart-Libero gefeiert. Aber genau dies spricht gegen die taktische Marschroute von Joachim Löw. DFB-Manager Oliver Bierhoff hebt Frankreich in den Favoritenstatus.

Porto Alegre. Das größte Problem stellte sich Manuel Neuer erst nach Schlusspfiff. Auf dem Weg zum Ausgang des Estádio Beira-Rios in Porto Alegre versuchte der deutsche Nationaltorwart nach dem erkämpften 2:1 gegen Algerien in der Verlängerung und dem Viertelfinaleinzug seine Uhr ans linke Handgelenk zu binden. Aber das Ding war widerspenstig. Neuer versuchte es mit Gefühl. Es klappte nicht. Er versuchte es mit Gewalt, nichts ging. Irgendwann hatte er die Faxen dicke und nahm die Zähne zur Hilfe, klemmte das eine Ende des Armbandes darin fest und zog das andere in den Verschluss. Die Uhr war angelegt, und Neuer gab einem Volunteer zum Abschied zufrieden „High five“.

Wenn es also sein muss, kann der 28-Jährige zu ganz ungewöhnlichen Mitteln greifen. Wenn irgendetwas nervt, dann nimmt er auch in Kauf, bei der Lösung des Problems ein wenig unkonventionell auszusehen.

Gegen die widerspenstigen Algerier in den 120 Minuten zuvor nervten vor allem die vielen langen Pässe hinter die deutsche Abwehr und die flinken Angreifer, die ihnen hinterherjagten. Zum Problem wurde beides, weil Neuers Vorderleute stets weit aufgerückt waren und den Nordafrikanern damit freies Geleit gaben. Gleich dreimal in Halbzeit eins sprintete der Münchner Schlussmann aus seinem Tor, nahm zwar nicht die Zähne zur Hilfe, dafür aber die Grätsche, was für einen Torwart ja kaum untypischer ist, und klärte die Situationen in allerhöchster Not.

Als Ausputzer musste Neuer auch im zweiten Durchgang mehrfach weit aus seinem Tor herauseilen. Am Ende standen 58 Ballkontakte, davon 19 außerhalb seines Strafraums, auf seinem Konto – nur vier algerische Spieler hatten mehr –, und die Nachlese der Partie wurde vielerorts zum Loblied auf den früheren Schalker: „Ich habe seine Leistung überragend gut gesehen“, sagte Bundestrainer Joachim Löw. „Manu hat uns wie ein Libero in letzter Sekunde vor der Gefahr bewahrt“, schwärmte der 54-Jährige.

Torwarttrainer Andreas Köpke fand sogar, dass Neuer selbst den Vergleich mit der personifizierten Liberoposition Franz Beckenbauer nicht scheuen müsse, und erklärte, warum genau jener Freigeist Neuer zum besten Tormann der Welt mache: „Draußen behält man trotzdem die Ruhe, wird nicht nervös, weil man immer das Gefühl hat, dass Manuel weiß, was er tut. Besser geht es eigentlich nicht. Manuel ist der komplette Torwart. Momentan sehe ich keinen besseren“, so Köpke.

Die Preisung Neuers hat einen Haken

Der Libero ist seit Ende der 90er-Jahre eigentlich eine verschmähte Spezies. Nun finden ihn plötzlich alle wieder gut, weil der Job vom Schlussmann Neuer gegen Algerien in einem Abwasch gleich mitverrichtet wurde. Modernes Torwartspiel heißt das dann. Und modern ist ja immer gut. „Ich helfe, wo ich kann“, sagte Neuer bescheiden. „Ich habe in der einen oder anderen Situation Kopf und Kragen riskiert, aber das gehört zu meinem Spiel.“

Nur hat die Preisung Neuers natürlich auch einen Haken. Wenn ein Torwart nach einem Spiel gegen einen deutlich schwächer eingeschätzten Kontrahenten im Mittelpunkt des Interesses steht, dann kann nicht alles aufgegangen sein, was man sich so vorgenommen hatte. Wenn ein Torwart dafür gelobt wird, dass er sich waghalsig in des Gegners Konter geworfen hat, dann hat der Gegner vielleicht ein paar Konter zu viel spielen dürfen. Dass Neuer als Torwart-Libero so brillieren durfte, lag nur daran, dass die deutsche Mannschaft gegen Algerien mächtig ins Schwimmen geriet – ja: dass sie schwächelte wie noch nicht zuvor bei dieser WM. Auch sie hatte sich schließlich fast um Kopf und Kragen gebracht.

Wie schon beim Gruppenspiel gegen Ghana (2:2) fiel auf, dass die DFB-Auswahl immer dann Probleme bekommt, wenn der Gegner den Raum eng macht und aggressiv in die Zweikämpfe geht. Dann produziert Löws Elf Ballverluste in der Vorwärtsbewegung, was bei der Idee einer hoch aufrückenden Abwehr nicht vorgesehen ist und zur Achillesferse wird.

Löw stellt bessere zweite Halbzeit heraus

Löw räumte ein, dass sein Team vor allem im ersten Durchgang nicht zu seinem Spiel gefunden hatte. „Danach hatten wir aber eine viel bessere Spielanlage. Wir können nicht sagen, dass wir in der zweiten Halbzeit ein schlechtes Spiel gemacht haben“, fand er. Letztlich sei es ein „Sieg des Willens“ gewesen. Das Mentale und die bessere Physis hätten entschieden – nicht das schöne Spiel. „Aber bei einer WM kann man nicht immer davon ausgehen, dass eine Mannschaft fantastisch spielt. Man muss nicht immer fantastisch spielen, sondern gewinnen“, sagte Löw.

Dies ist ein bemerkenswert pragmatischer Satz des Bundestrainers – dem vormals bekennenden Liebhaber ansehnlicher Spielzüge. Aber man muss Löw verstehen: Das Gespräch mit den Medien nach dem Achtelfinale war letztlich nichts anderes als die Fortsetzung des Turniers mit anderen Mitteln. Schon am Freitag (18 Uhr/ARD) warten die nach dem 2:0-Erfolg gegen Nigeria selbstbewussten Franzosen im Viertelfinale im Maracana-Stadion von Rio, und Löw kann keine übermäßige Kritik oder Systemdebatten gebrauchen. Doch sie sind längst im Gange.

Erst mit der Hereinnahme Sami Khediras ins zentrale Mittelfeld neben den diesmal schwachen Bastian Schweinsteiger und die Rückversetzung Philipp Lahms auf seine frühere Stammposition rechts in der Viererkette gelang Löws Mannschaft eine Balance zwischen Angriff und Abwehr. Der überforderte Shkodran Mustafi, der rechts in der Defensive begonnen hatte, musste mit einem Muskelbündelriss ausgewechselt werden. Für ihn ist das Turnier beendet. Ob er jetzt seine Strategie überdenken, Lahm nach hinten ziehen sowie mit Khedira und Schweinsteiger im Zentrum spielen werde, wurde Löw gefragt. Der schloss das erstmals in diesem Turnier als Startformation nicht mehr kategorisch aus und sagte: „Ich muss sehen, wie die Spieler sich erholen. Das Spiel hat viel Kraft gekostet. Noch kann ich nicht sagen, ob es personelle Änderungen geben wird.“

Dass nach vier Partien in Brasilien immer noch über das System, das Grundlegende also, debattiert wird, ist kein gutes Zeichen. Vor allergrößtem Selbstvertrauen strotzt die deutsche Elf ohnehin nicht mehr: Bierhoff sieht die Favoritenrolle am Freitag sogar auf der Seite der Franzosen, „so, wie sie aufgetreten sind“, sagte der Teammanager. Und man hätte ergänzen können: „so, wie das deutsche Team aufgetreten ist“.