Fabian Boll trifft gegen Dresden zum 1:2, beschwört die Mannschaft und dreht nach sechs Partien ohne Sieg ein verloren geglaubtes Spiel.

Hamburg. Er rief sie alle zusammen, die Aufholjagd wurde kurzerhand zur Chefsache erklärt. Während die Kollegen bereits unter den lauten Anfeuerungsrufen der Fans zur Halbzeitpause in die Kabinen eilten, beorderte Fabian Boll alle Feldspieler für einen Schulterschluss an der Mittellinie wieder zurück. St. Paulis Mannschaft formierte sich zum Kreis. "Lasst euch nicht verrückt machen, ich habe hier schon ganz andere Spiele erlebt, und die Sichtverhältnisse spielen uns gleich in die Karten", prophezeite der Kapitän, der kurz zuvor überhaupt erst die Gesprächsgrundlage gelegt hatte. Ohne seinen Anschlusstreffer in der 45. Minute zum 1:2 gegen Dynamo Dresden hätte er sich im Kollegenkreis wohl der Lächerlichkeit preisgegeben. Doch sein Tor ließ den Glauben an eine Chance auf Punkte zurückkehren, und seine spontane Ansprache wirkte. Boll sollte recht behalten.

Der Kapitän sorgte höchstpersönlich für den Kurswechsel, an den angesichts der schauerlichen sportlichen Darbietung kaum einer der 21 045 Zuschauer am ausverkauften Millerntor mehr geglaubt hatte, und steuerte seine Crew doch noch in den Zielhafen. "Eigentlich war das ein Spiel, das wir 0:4 verlieren müssen. Die erste Halbzeit war absolute Grütze, mit Fehlpässen ohne Ende. Das darf uns nicht passieren. Insofern war Bollers Tor brutal wichtig", wusste Sebastian Schachten, der Boll den Ball in den Strafraum geflankt hatte. "Zu wenig, von allen", hatte Christopher Avevor gesehen, und selbst Michael Frontzecks Hoffnung auf die drei Punkte zum Heimdebüt war früh geschrumpft: "Wir waren bereits mausetot", gestand der Trainer später.

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Ungeordnet und unkonzentriert hatte seine Elf die Partie begonnen. Bereits nach zehn Minuten griff Frontzeck ein und signalisierte seinen Abwehrspielern eindringlich, die weiten, ungenau in die Spitze gedroschenen Bälle zu unterlassen. Doch ob hoch oder flach, in der Luft oder am Boden - St. Pauli leistete sich nach dem spielerischen Feuerwerk vom letzten Wochenende in Paderborn (1:1) ein Fehlpassfestival und hatte gegen die ersatzgeschwächten Dresdner, die ohne Kapitän Koch, dessen Vize Trojan und Abwehrchef Bregerie angetreten waren, immer wieder das Nachsehen. Besonders auf den Außenbahnen gelang dem Tabellenvorletzten nichts, Kevin Schindler und Akaki Gogia präsentierten sich als Ausfälle, während auf der Gegenseite der agile Ouali, zunächst auf der linken, später auf der rechten Außenbahn eingesetzt, nicht in den Griff zu bekommen war. Durch einfachen Doppelpass mit Jungwirth filetierte der 24-Jährige die rechte Abwehrseite der Hamburger und schob zur Führung ein (18.). Poté erhöhte zehn Minuten später nach vogelwildem Abwehrverhalten St. Paulis auf 2:0.

Ein Schützenfest bahnte sich an. Die entscheidende Frage schien, ob die noch um fünf Treffer bessere Tordifferenz auf Tabellenschlusslicht Duisburg bis zur 90. Minute halten würde. "Wir haben alles vermissen lassen, was wir uns vorgenommen hatten", sagte Florian Kringe, "und so richtig kann sich das auch keiner erklären, weshalb das so passiert ist." Immerhin gab der Mittelfeldspieler in der 39. Minute den ersten Torschuss ab und markierte drei Minuten darauf mit einem Kopfball auch die erste Torchance, zielte aus sechs Metern allerdings zu hoch. Lebenszeichen, denen Bolls Drehschuss und die Hoffnung auf die große Wende folgten.

Als Christopher Avevor keine vier Minuten nach Wiederanpfiff mit seinem ersten Treffer im St.-Pauli-Dress zum umjubelten Ausgleich einköpfte, war das Spiel endgültig ein anderes geworden. "Die Karten werden neu gemischt", stellte Stadionsprecher Rainer Wulff am Mikrofon glücklich fest. Das Kräfteverhältnis hatte sich verändert.

St. Pauli vermochte dem Spiel zwar weiter keinen Glanz zu verleihen, erkämpfte sich aber die Oberhand. Und wieder war es Boll, der das entscheidende Element beifügte. Mit einem sehenswerten Pass ermöglichte er Daniel Ginczeks Siegtor zum 3:2 (55.) und geriet damit am Ende auch noch in der Scorerliste zum Vorarbeiter. "So etwas ist natürlich geil. Es gibt nichts Geileres im Fußball, als ein Spiel zu drehen", freute sich Kringe nach sechs sieglosen Partien über die ganz besondere Note.

Fußball paradox: Nachdem die guten Auftritte gegen Union Berlin (2:2) und in Paderborn mit jeweils nur einem Punkt belohnt worden waren, genügten diesmal 45 kämpferische Minuten und eine gute Chancenverwertung, um den ersehnten Dreier zu landen. Die konsternierten Sachsen, bei denen Trainer Loose in der 72. Minute unverständlicherweise auch noch Ouali aus dem Spiel nahm, kamen nicht mehr zurück.

Um 15.23 Uhr reckte Frontzeck die Fäuste in die Luft, umarmte erst Torwarttrainer Mathias Hain, dann den Rest seines Funktionsteams. Kollektiver Druckabfall am Millerntor. "Das war immense Effizienz", freute sich Torschütze Avevor. Eine neue Qualität, die allerdings nur eingebracht werden konnte, da Boll erst das Tor und dann den richtigen Ton getroffen hatte. "Schön, wenn der Käpt'n recht behält", sagte der Mann des Tages und grinste: "Das stärkt die Glaubwürdigkeit."