In letzter Minute sagt Matthias Sammer dem HSV ab, obwohl ein unterschriftsreifer Vertrag vorlag. Er gibt Otto Rieckhoff die Schuld.

Hamburg. Als Matthias Sammer am Freitag um kurz vor zehn Uhr in einem schwarzen Mercedes an der DFB-Zentrale in Frankfurt vorfuhr, war die HSV-Welt noch in Ordnung. Hamburgs designierter Sportchef lächelte, wollte sich aber vor der Präsidiumssitzung des DFB, auf der er über sein bevorstehendes Engagement beim HSV berichten sollte, öffentlich nicht äußern. Dabei blieb der 43-Jährige auch, als er sechs Stunden später die DFB-Zentrale durch die Tiefgarage verließ. Einziger Unterschied zum Morgen: Die HSV-Welt wurde genau um 15.55 Uhr, als der DFB per Pressemitteilung verkündete, dass Hamburgs Wunschkandidat DFB-Sportdirektor bis 2013 bleiben würde, komplett aus den Angeln gehoben. "Das Interesse des HSV ehrt mich sehr, aber es warten beim DFB noch viele Aufgaben, auf die ich mich freue", ließ Sammer ausrichten. Um 16 Uhr informierte er Alexander Otto telefonisch und hinterließ pure Fassungslosigkeit. So vorgeführt wurde der Klub wohl noch nie.

Noch am Freitagmorgen hatte Otto, der als Verhandlungsführer des Aufsichtsrats fungierte, mit Sammers Berater, angeblich der frühere BVB-Präsident Gerd Niebaum, die letzten Vertragsdetails ausgehandelt. In der Klubführung war man sich sicher, die große Lösung perfekt gemacht zu haben. "Wir hatten über Wochen sehr gute und konstruktive Gespräche und waren uns in inhaltlichen Fragen einig", erklärte der neue Aufsichtsratsvorsitzende Otto Rieckhoff zwei Stunden vor dem Bundesligaspiel gegen Frankfurt. "Es lag ein ausverhandelter Vertrag vor. Sein Rückzug ist für uns nicht nachvollziehbar. Wir sind enttäuscht und überrascht von seiner Absage." Und weiter: "Sammer hatte sich klar bekannt zum HSV."

Genau dieses positive Signal war am Donnerstag aus Sammers Umfeld vermittelt worden. Doch auf die Frage, ob Sammer vom DFB unter Druck gesetzt worden ist, antwortete Rieckhoff: "Das Gefühl hatte ich schon. Aber aus Respekt vor Matthias Sammer will ich keine Details nennen." Von DFB-Seite kommentierte Generalsekretär Wolfgang Niersbach: "Er war hin- und hergerissen. Die Aufgabe beim HSV hat ihn gereizt, aber für Matthias gibt es hier noch viel zu tun." Sitzungsteilnehmer wie Präsidiumsmitglied Rolf Hocke berichteten, während der sechsstündigen Tagung hätte Sammer "mit Gott und der Steinzeit telefoniert".

Inoffiziell sollen für die Absage Sammers vor allem familiäre Gründe - er lebt mit Frau und Kindern in München - gespielt haben. Offiziell sagte er: "Der HSV hat über die Öffentlichkeit zu viel Druck auf mich aufgebaut." Doch das dürfte nur die halbe Wahrheit sein. Ob Sammer seinen Vertrag beim DFB bis 2013 erfüllt, muss bezweifelt werden. Womöglich schielt er auf das Amt des Bundestrainers nach der EM 2012 oder den Trainerjob von Louis van Gaal, sollte der Niederländer nicht längerfristig arbeiten wollen oder dürfen.

Dass das Kapitel des HSV mit seinen Sportchefs um eine unrühmliche Episode reicher geworden ist, glaubt Rieckhoff nicht: "Ich finde das überhaupt nicht peinlich. Wir hatten keine Suche nach einem Sportchef. Es gab nur die Option Sammer, und der musste man nachgehen. Alles andere wäre töricht gewesen." Der Oberkontrolleur ließ zudem wissen, dass er mit dem amtierenden Sportchef Bastian Reinhardt bereits gesprochen habe: "Er wird seine Arbeit weiter machen wie bisher."

Wie stark die Autorität Reinhardts noch ist und inwiefern ein vertrauensvolles Arbeiten noch möglich ist, wird sich zeigen müssen. Während der Aufsichtsratssitzung am Dienstag war ihm keine konkrete Stelle unter Sammer angeboten worden. Er solle sich einen Aufgabenbereich überlegen. Zudem gab es Spekulationen, wonach Vorstandsboss Bernd Hoffmann schon vor Wochen zusammen mit Günter Netzer, den er in den Aufsichtsrat locken wollte, die Gespräche mit Sammer aufgenommen hat. Als Alternative für Sammer wurde auch schon Hoffenheims Ex-Manager Jan Schindelmeiser gehandelt. Nach dem Frankfurt-Spiel zweifelte sogar Trainer Armin Veh öffentlich die Eignung Reinhardts an: "Er braucht Zeit, so einen Klub wie den HSV als Sportdirektor zu führen. Er ist 35, das kann er normal nicht alles bewerkstelligen."

Tatsache ist, dass sich Hoffmann am Donnerstag in Bremen mit Miroslav Stevic traf. Den 1860-Manager, der mit seinem Team am Freitagabend in Osnabrück antrat, und der nicht nur ein Nachbar Sammers in Grünwald bei München ist, sondern auch ein Freund, wollte Sammer mit zum HSV bringen. Ein normaler Vorgang, schließlich wäre Stevic nicht in den Rang eines Vorstands aufgestiegen, der aber zeigt, dass Hoffmann durchaus involviert bei der Zusammenstellung des Gesamtpakets war. Hoffmann war daran gelegen, mit einer "großen Lösung" Sammer die Voraussetzungen für seine Vertragsverlängerung zu schaffen. Jetzt fängt er - wie der HSV - von vorne an.

Sammer greift HSV an

Der vom Hamburger SV umworbene DFB-Sportdirektor Matthias Sammer wirft demKlub unprofessionelles Verhalten vor und bezeichnet dieses als den Hauptgrund für seine Absage an den Fußball-Bundesligisten. „Plötzlich hat der Aufsichtsrats-Chef Rieckhoff - mit dem ich übrigens nie ein persönliches Wort gesprochen habe - erklärt, dass es nur eine Frage von Tagen sei, bis alles geklärt sei. Aber so hatten wir das nie kommuniziert“, sagte Sammer der Bild am Sonntag.

„Unnötig Zeitdruck“ aufzubauen, war für Sammer der „Kardinalfehler“ von Ernst-Otto Rieckhoff. „Das hat die Situation sehr belastet. Darüber war ich doch sehr verwundert. Ich hatte mit dem HSV-Aufsichtsrat vereinbart, wie die Öffentlichkeit informiert werden sollte“, sagte der Europameister von 1996. „Es sollte auf keinen Fall zeitlicher Druck entstehen. So war es abgemacht.“ An die Absprache habe sich der HSV nicht gehalten.

Alle entscheidenden Personen seien informiert gewesen, dass Sammer noch familiäre Dinge klären wollte. „Ich wollte vor allem mit meiner ältesten Tochter reden. Sie ist im Internat in der Nähe von München, ist gerade im Abiturstress, hatte viele Prüfungen. Deshalb habe ich gesagt, dass ich dieses Wochenende unbedingt brauche, um mit ihr in Ruhe zu reden.“ Die Eckpunkte des Vertrages mit dem HSV seien bereits ausgehandelt gewesen.

So ist es der Initiative von Theo Zwanziger zu verdanken, dass Sammer weiterhin für den Deutschen Fußball-Bund (DFB) arbeitet. „Dort wollte ich erklären, dass ich noch das Wochenende benötige, um meine Zukunft zu klären. Aber Herr Dr. Zwanziger hat darauf bestanden, dass ich sofort eine Entscheidung fälle“, erklärte Sammer. „Und da ich mit dem HSV noch nicht in allen Punkten einig war, habe ich mich zu meinem Arbeitgeber bekannt - und das ist der DFB! Wer mich kennt, der weiß, dass ich ein vertragstreuer Mensch bin. Es mussten Fakten geschaffen werden.“

Er habe gegenüber dem HSV „mit offenen Karten“ gespielt, behauptet Sammer: „Deshalb habe ich ein reines Gewissen.“ Nun zähle nur der DFB, nichts anderes. Der HSV wollte Sammer als Sportdirektor installieren. Diese Funktion ist jetzt weiterhin Bastian Reinhardt vorbehalten. (SID/abendblatt.de)