Die bessere Nachwuchsarbeit soll das HSV-Talent Levin Öztunali nach Leverkusen gelockt haben. Aber ist das auch wirklich so?

Hamburg/Leverkusen. Der Zufall wollte es am Dienstagabend um 18 Uhr so, dass sowohl die U19 als auch die U17 des HSV parallel auf dem Kunstrasenplatz 2 der Anlage Ochsenzoll trainierten. Wer nun wissen wollte, auf welcher Hälfte des Platzes HSV-Supertalent Levin Öztunali nach all den Diskussionen der vergangenen Tage trainierte, der hätte sich den Weg sparen können. Uwe Seelers Enkel, der gerade erst seinen Wechsel zu Bayer Leverkusen bekannt gegeben hat, war weder hüben noch drüben zu finden, sondern ein paar Kilometer weiter südlich, genauer gesagt: an der Algarve in Portugal beim DFB-Lehrgang mit dem U17-Nationalteam.

Während Öztunali, von seinen Noch-Kollegen in Anlehnung an Madrids Özil nur Mesut genannt, Sonnenschein und 17 Grad im Schatten genießen darf, wurde im winterlichen Hamburg bereits am Montag eine Entscheidung getroffen. Trotz des Streits zwischen HSV-Sportchef Frank Arnesen und Vater Mete sowie Opa Uwe Seeler wurde vereinbart, dass der 16-jährige Schüler bis Sommer beim HSV bleiben soll, ehe es ihn nach Leverkusen zieht. Nicht das Geld, so betonte Papa Öztunali immer wieder, hätte den Ausschlag gegeben, sondern die Perspektive durch die bessere Bayer-Nachwuchsarbeit.

Doch stimmt das überhaupt? Ist die viel gelobte Leverkusener Nachwuchsarbeit tatsächlich besser als die oft geschmähte Talentförderung des HSV? Oder war doch der mit kolportierten 1,7 Millionen Euro dotierte Fünf-Jahresvertrag im Gegensatz zum 500.000-Euro-Angebot des HSV für einen Dreijahresvertrag ausschlaggebend?

Auf den ersten Blick sind die Unterschiede jedenfalls zunächst mal nicht so groß. Der HSV hat vier im Nachwuchsbereich tätige Fußballlehrer und zehn deutsche Nationalspieler (U19 bis U16), Leverkusen hat drei bestausgebildete Trainer und in den gleichen Altersklassen aktuell acht deutsche Jugendnationalspieler. Beide Vereine wurden gerade erst von der DFL mit drei von drei Sternen für ihre Leistungszentren ausgezeichnet, wobei Bayer als einer von zwei Bundesligavereinen sogar eine Sonderauszeichnung für die Durchlässigkeit zwischen Nachwuchs und Profis erhalten hat. "Wenn wir im Nachwuchsbereich eine Tabelle hätten, dann würde Leverkusen in Deutschland mindestens den gleichen Platz einnehmen wie aktuell in der Bundesliga", sagt Bayer-Nachwuchschef Jürgen Gelsdorf, also Platz drei.

Belegt wird Gelsdorf Aussage durch die Tatsache, dass in den vergangenen fünf Jahren 45 (!) von Bayer ausgebildete Talente in Deutschland Profi geworden sind, darunter neben Gonzalo Castro, Stefan Reinartz und Jens Hegeler auch Bastian Oczipka (Frankfurt), Marcel Risse (Mainz) und natürlich Hamburgs René Adler. Zum Vergleich: Beim HSV brauchte man eine Zeitspanne von insgesamt elf Jahren, um auf eine ähnliche Anzahl von Eigengewächsen zu kommen. Prominenteste Vertreter sind neben den aktuellen HSV-Profis Maxi Beister, Zhi-Gin Lam und Heung Min Son auch Tunay Torun (Stuttgart), Maxim Choupo-Moting (Mainz), Alexander Meier (Frankfurt) und - Trommelwirbel - Leverkusens Sidney Sam.

Auffälligster Unterschied zwischen den beiden Vereinen ist aber sicherlich die Konstanz in der Führungsebene. Während der HSV seit 2007 sechs verschieden Konstellationen (Reinhardt/Schröder, Reinhardt/Meier, Meier/Zimmer, Hildebrandt, Todt, Hildebrandt) in der Nachwuchsleitung hatte, setzte Bayer im gleichen Zeitraum unverändert auf die Expertise Gelsdorfs. "Ich denke, dass wir uns in der Bundesliga vor allem durch unsere konstant gute Arbeit einen ausgezeichneten Namen im Nachwuchsbereich gemacht haben", sagt der 60-Jährige, der seit 2005 den Bayer-Nachwuchs leitet, "wir haben in Leverkusen sehr kurze Wege zwischen Nachwuchs und Profis. Rudi Völler, Wolfgang Holzhäuser und Michael Reschke sind beispielsweise sehr häufig bei unseren Jugendspielen zu Gast, kennen mindestens 95 Prozent der Spieler in- und auswendig." Beim HSV, dies ist in Hamburg ein offenes Geheimnis, steht Noch-Chef Bastian Reinhardt dagegen schon wieder im Sommer vor der Ablösung, eine Nachfolgelösung wird derzeit gesucht.

Der HSV setzt im Nachwuchs auf eine 4-3-3-Taktik, Leverkusen lässt bewusst alle Systeme einstudieren. Die bessere Perspektive scheint aber bei allen Unterschieden und Gemeinsamkeiten eine Frage der Perspektive zu sein. Immerhin darf sich der HSV, der sich den Nachwuchs rund fünf Millionen Euro im Jahr kosten lässt, wohl über ein Schmerzengeld zur Ausbildungsentschädigung freuen. Alle Bundesligavereine haben sich zum 1. Januar darauf geeinigt, dass bei einem Wechsel eines Jugendspielers von Drei-Sterne-Leistungszentrum zu Drei-Sterne-Leistungszentrum dem abgebenden Verein die Summe X pro Jahr Vereinszugehörigkeit über maximal fünf Jahre zustehen. Im Fall von Öztunali darf sich der HSV entsprechend über den höchstmöglichen Betrag freuen, dem Vernehmen nach sind das 50.000 Euro. Bayer-Sportmanager Reschke kann es verschmerzen: "Uns ist nur wichtig, dass wir nicht den Enkel von Uwe Seeler verpflichtet haben, sondern mit Levin einen überaus talentierten Mittelfeldspieler." Ein Talent, das sich für die bessere Perspektive entschieden hat - und für das bessere Gehalt.