Mit einem Sieg gegen Stuttgart will sich der HSV am Sonntag (17.30 Uhr) im Mittelfeld der Liga etablieren. Ein Plädoyer für das Mittelmaß.

Hamburg. Manchmal kann selbst der Duden gnadenlos sein. "Mittelmaß, das", steht dort geschrieben, "Gebrauch: oft abwertend." Und tatsächlich gibt es im Profifußball nur wenig, das die Verantwortlichen so sehr fürchten wie die Bezeichnung mittelmäßig. Mittelmäßig ist langweilig, durchschnittlich, bescheiden. Der HSV der Neunzigerjahre war langweilig, Carsten Kober war ein durchschnittlicher Abwehrspieler, die Stimmung im alten Volksparkstadion war bescheiden. Und selbstverständlich ist auch die aktuell ausgeglichene Bilanz mit drei Siegen, einem Unentschieden und drei Niederlagen vor allem eines: mittelmäßig.

Aber ist Mittelmaß tatsächlich so schlimm? "Nein", sagt HSV-Verteidiger Dennis Diekmeier vor dem möglicherweise richtungsweisenden Heimspiel gegen den VfB Stuttgart (So., 17.30 Uhr/Sky und im Liveticker bei abendblatt.de), "wir wollen uns zunächst mal im Mittelfeld der Tabelle festsetzen." Zielsetzung Mittelmaß? Warum eigentlich nicht? "Wir sollten mit beiden Füßen auf dem Boden bleiben. Nach zwei Niederlagen in Folge ist man plötzlich wieder ganz unten. Ein Platz im Mittelfeld wäre schon super", sagt auch Rafael van der Vaart, der in Bezug auf Mittelmäßiges völlig unverdächtig ist. Aber van der Vaart, der seine Adduktorenprobleme auskuriert hat und am Sonntag spielen kann, weiß natürlich auch, dass durchschnittlich besser ist als unterdurchschnittlich. Und Platz acht in der Tabelle ist Durchschnitt pur.

Dabei sind die Hamburger bei genauerer Betrachtung nach sieben Spieltagen alles andere als durchschnittlich. Die Mannschaft von Thorsten Fink, der trotz zweier Heimsiege in Serie ebenfalls "nur" einen einstelligen Tabellenplatz als Ziel ausgibt, führt beispielsweise mit Abstand die meisten Zweikämpfe pro Spiel (122) in der Bundesliga. Zum Vergleich: Die zweitplatzierten Bremer kommen auf 114 direkte Duelle pro Partie, und der kommende Gegner aus Stuttgart würde sich bei gerade mal 89 gezählten Zweikämpfen sicherlich über etwas mehr Mittelmaß freuen. Für Fink ist das körperlich überdurchschnittliche Spiel seines Teams keine Überraschung. "Wir haben in dieser Saison mehr Willen, viel zu attackieren, anstatt im Raum zu stehen. Zudem rücken wir schneller raus, sodass sich der Gegner nicht drehen kann." Klingt also gar nicht nach Mittelmaß.

Dafür ist Stuttgart dem HSV in einem anderen Aspekt haushoch überlegen: der absolvierten Laufstrecke. Der VfB führt das Ranking mit 120 absolvierten Kilometer pro Spiel an, die Hamburger sind mit unterdurchschnittlichen 108 Kilometern Vorletzter. Doch das allein ist natürlich kein Qualitätskriterium - schließlich bewegen sich die überhaupt nicht mittelmäßigen Bayern (109 Kilometer) auch nur im, natürlich, Mittelmaß der Liga.

Im Gegensatz zu einem Großteil der vergangenen Saison liegt der HSV in der Ballbesitztabelle allerdings weit unter dem erstrebenswerten Mittelmaß. Nur gut 47 Prozent der Spielzeit hielten die Hamburger das Spielgerät in den eigenen Reihen. Zur Erinnerung: Fink betonte zu Beginn seiner Amtszeit, möglichst viel Ballbesitz haben zu wollen. Kapital konnten seine Kicker jedoch nicht daraus schlagen. Doch von dieser Grundphilosophie will der Coach auch in dieser Saison nicht abweichen. "Wir können den Ball noch nicht so halten, wie wir uns das vorstellen. Aber grundsätzlich wollen wir fast immer versuchen, dem Gegner unser Spiel aufzudrücken. Dass wir trotz des geringeren Ballbesitzes relativ erfolgreich sind, hat eher mit der verbesserten Effektivität zu tun." Die ist nach der unterdurchschnittlichen Vorsaison in diesem Jahr nämlich deutlich überdurchschnittlich.

Fragt man bei Stuttgarts Trainer Bruno Labbadia nach, dann ist sein ehemaliger Verein einiges, aber mit Sicherheit nicht mittelmäßig. "Der HSV hat eine Mannschaft, die klar in die Europa League kommen kann. Das Team wurde zu Saisonbeginn schlechter gemacht, als es eigentlich ist." Labbadia erinnert daran, dass sich sein Ex-Klub auf der Zielgeraden der Transferperiode alles andere als durchschnittlich verstärkt hat. "Sie haben gut und vor allem teuer eingekauft", sagt der VfB-Trainer, der sich als Tabellensiebzehnter tatsächlich etwas mehr Mittelmaß im Ländle herbeisehnt, "derartige finanzielle Möglichkeiten wünscht sich jeder Coach."

Nun wäre es für Labbadias Kollege Fink sicherlich ein Leichtes, nach vier Spielen ohne Niederlage in Folge vor der Partie gegen Stuttgart dem zu Saisonbeginn erhofften Mittelmaß abzuschwören - doch der Hamburger kann der Verlockung widerstehen. "Unsere Stimmung ist natürlich besser als nach dem schlechten Saisonstart. Aber wir fahren ganz gut damit, uns nicht von irgendeiner Euphorie anstecken zu lassen", sagt Fink, der beim Abschlusstraining am Sonnabend den angeschlagenen Milan Badelj (Bänderanriss im rechten Sprunggelenkt) einen letzten Härtetest unterziehen will. "Wir wissen, dass wir am Anfang einer Kreuzfahrt stehen und noch eine Weltreise vor uns haben", sagt der 44-Jährige.

Geträumt wird beim HSV aus Tradition früh genug, ein wenig Realismus könnte dem Verein sogar mal ganz guttun. Ein Hoch also auf das Mittelmaß!