Der Torwart des HSV, René Adler, sichert mit großen Paraden den 1:0-Sieg gegen Hannover 96. Nominierungs-Rufe an Löw werden lauter.

Hamburg. Wenn ein Fußballspiel mit 1:0 endet, fliegen in der Öffentlichkeit meistens dem Schützen des goldenen Tores alle Sympathien zu. Und Artjoms Rudnevs durfte sich auch nicht beklagen. Nach seinem (ersten Heimspiel-)Treffer gegen Hannover gab es für den im Sommer für 3,5 Millionen Euro von Lech Posen verpflichteten Torjäger sogar zarte "Rud-ne-evs"-Rufe von der Nordtribüne - die aber im Vergleich zu dem Chor für René Adler wie ein anerkennendes Flüstern wirkten.

Was für einen Torwart hat sich der HSV da geangelt! Als der Wechsel des 27-Jährigen von Bayer Leverkusen perfekt war, hoben die Skeptiker ihre Stimme, äußerten Zweifel an seiner körperlichen Fitness nach der langen Verletzungspause und bemängelten, der Klub hätte keinen Bedarf auf dieser Position. Inzwischen zweifelt niemand mehr. Im Gegenteil: Wer verfolgte, wie die HSV-Fans am Sonnabend erst in der Imtech-Arena und am Abend während der Geburtstagsgala in der O2 World (siehe auch Seite 22) ihren Torwart mit Sympathiebekundungen überhäuften, bekam ein kleines Signal: Am 125. Geburtstag des HSV wurde ein neuer Publikumsliebling geboren: René Adler. Olli Dittrich lieferte als "Dittsche" die passende Überschrift für Adlers Leistungen: "Er ist ein reiner Titan - er ist der neue Torwart-Titan", kürte er Adler bei der Gala zum legitimen Nachfolger Oliver Kahns.

"Das ist mir jetzt relativ unangenehm", übte sich der Gehuldigte auch beim Lob in Abwehrmaßnahmen, "schließlich spiele ich ja nicht alleine." Dafür aber in einer eigenen Liga. Beim HSV-Anhang wächst mit jeder Woche der Stolz darüber, solch einen Keeper der Extraklasse in den eigenen Reihen zu haben. Gegen Hannover entschärfte Adler gleich vier "Unhaltbare", was nicht nur der Lohn war für seine tollen Reflexe, sondern auch für sein ausgezeichnetes Stellungsspiel.

Für den rasanten Anstieg in der Beliebtheit dürfte aber genauso das Verhalten Adlers beitragen. Ihm nehmen die Massen ab, dass er seine Zeit beim HSV nicht nur als Job begreift, sondern als Mission. Wenn er mit leuchtenden Augen beschreibt, wie sehr ihn der Klub mit seiner Geschichte und den vielen Fans, die vor der Partie mit 45.000 Fahnen-Doppelhaltern für eine Gänsehaut-Choreografie sorgten, fasziniert, lässt das niemanden unbeeindruckt.

Adler lebt diese Leidenschaft nicht nur auf dem Platz aus, er steckt seine Mitspieler damit an, motiviert sie und gibt ihnen Sicherheit, indem er lautstark dirigiert. "Ich bin nach den Spielen regelmäßig heiser, weil ich viel coache", berichtete Adler am Sonnabend. "Wir müssen viel kommunizieren. Dieses Mal hatte ich einen guten Mix: In der ersten Halbzeit habe ich viel gecoacht, in der zweiten Halbzeit habe ich mich mehr auf mein Spiel konzentriert, weil ich wusste, dass Hannover noch viel probieren würde."

Adlers Fähigkeit, in entscheidenden Momenten Topleistung abzurufen, und sein Siegeswille, der sich gegen Hannover auch in einigen Posen offenbarte, das sind genau die Eigenschaften, die dem HSV in der Vergangenheit häufig für den Erfolg fehlten. Bei Adler sind dies jedoch keine Zufallsprodukte, sondern das Ergebnis harter und sorgfältiger Arbeit, auch abseits des Platzes.

In einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" (FAS) beschrieb Adler, dass er die Spiele gezielt vorbereitet. "Ich mache mir am Abend zuvor Gedanken darüber, was ich von mir verlange, und schreibe das Punkt für Punkt in ein Buch." Schließlich sei im modernen Fußball die Konzentration bei jeder Aktion wichtig, genau wie die perfekte Position. Dieses Ritual, das Adler mit seinen Mentaltrainern entwickelt hat, beinhalte auch eine Analyse nach dem Spiel: "Dann überprüfe ich, ob ich an alles gedacht habe."

Nach dem Spiel gegen Hannover kann dies eindeutig mit Ja beantwortet werden. Anders als noch am Mittwoch in Mönchengladbach benötigte der HSV diesmal eine große Portion Glück und eben das Können Adlers, um die Drangphasen der Niedersachsen zu überstehen. "Hannover hat uns einige schöne Gastgeschenke mitgebracht", gab auch Rafael van der Vaart zu, der Adler überschwänglich lobte: "Ich kann ja inzwischen jede Woche dasselbe sagen, immer wieder überragt René."

Da der HSV-Torwart bis zu seinem Rippenbruch 2010 die klare Nummer eins bei der deutschen Nationalmannschaft war, ist es nur nachvollziehbar, dass mit jeder starken Partie die Forderungen nach seiner Rückkehr ins DFB-Trikot lauter werden. "Joachim Löw sieht ja auch die Spiele", sagte van der Vaart, "und eines kann er nicht sagen: dass er René nicht einladen muss."

Ob Löw den Rufen nach einer Nominierung Adlers zu den WM-Qualifikationsspielen in Irland und gegen Schweden (12. und 16. Oktober) folgt, ist jedoch fraglich. In einem "Kicker"-Interview hatte sich Löw vor den Spielen gegen die Färöer und in Österreich festgelegt, in den kommenden vier Spielen mit den Torhütern Manuel Neuer (Bayern), Ron-Robert Zieler (Hannover) und Marc-André ter Stegen (Mönchengladbach) arbeiten zu wollen. Bleibt er bei der Marschroute, könnte Adler frühestens am 14. November beim Freundschaftsspiel gegen die Niederlande in Amsterdam seine Rückkehr feiern.

"Ich fahre gut damit, den Moment einfach zu genießen und mich mit der Mannschaft und den Fans zu freuen", sagte Adler, der natürlich dennoch davon träumt, bald wieder in den Kreis der Elitekicker zurückzukehren. Aber er gibt sich die nötige Zeit. "Fußball-Deutschland weiß, was ich kann, das habe ich oft genug gezeigt. Trotzdem sehe ich mich noch nicht wieder bei der Nationalmannschaft", sagte er in der FAS.

In den direkten Duellen gegen seine Konkurrenten darf sich Adler als Sieger fühlen. Erst stach er Mönchengladbachs ter Stegen aus und jetzt Hannovers Zieler, der sich zudem vor dem 1:0 durch Rudnevs einen schlechten Abschlag leistete.

Experten wie der frühere Torwart Uli Stein sind sich sicher, dass Adler bald wieder in die Nationalmannschaft zurückkehrt. Dass die besten Argumente gute und erfolgreiche Auftritte im Verein sind, weiß jeder. Nach nun sieben Punkten hat der HSV vorerst den verpatzten Saisonstart vergessen lassen. Trainer Thorsten Fink warnte jedoch seine Spieler, jetzt schon von den oberen Tabellenrängen zu träumen: "Wir müssen aufpassen, dass jetzt nicht einige schon wieder von Europa sprechen. Ich habe viele Fehler gesehen, die wir abstellen müssen." An Adler hat Fink dabei sicher nicht gedacht.

Die letzte Feier: Heute überträgt Hamburg 1 ab 20.15 Uhr die 90-minütige Sondersendung "Rasant Extra" zum Vereinsgeburtstag. 100 Gäste werden im Studio sein, darunter HSV-Chef Carl Jarchow, Thomas Doll, Richard Golz, Horst Schnoor und Jochen Meinke.