ARD-Experte gegen den Rest der DFB-Welt: Obwohl Mario Gomez das 1:0 gegen Portugal erzielte, kritisierte Mehmet Scholl den Stürmer scharf.

Lwiw/Danzig. Mario Gomez, sonst bekanntlich ein Meister in Sachen Effektivität, konnte einfach nicht zum Abschluss kommen. Weil beim Nationalstürmer nach dem 1:0-Sieg im ersten deutschen EM-Spiel gegen Portugal bei der Dopingkontrolle nichts ging, verpasste er wie Holger Badstuber den Abflug des Mannschaftsflugzeugs (1 Uhr MESZ) zurück nach Danzig. Sonderlich traurig war Gomez darüber nicht, schließlich kam er so in den Genuss, ei ne Stunde später in eine Charterma schine einsteigen zu dürfen, die neben den Journalisten auch die Spielerfrauen zurück nach Polen brachte. So konnte der 26-Jährige in der ersten Reihe mit Freundin Silvia Platz nehmen und in Ruhe über einen für ihn denkwürdigen Abend plaudern.

Es lief die 72. Minute, als sich für Gomez die Geschichte der vergangenen Turniere zu wiederholen schien. 2008 verdiente sich der Angreifer des FC Bayern bei der EM in der Schweiz und in Österreich mit erbärmlichen Abschlussversuchen den Spitznamen "Chancentod" und landete auf der Ersatzbank, die er auch während der WM 2010 in Südafrika selten verließ.

Die Partie gegen die Portugiesen war für Gomez sehr bescheiden verlaufen, folgerichtig stand Miroslav Klose am Spielfeldrand bereit für die Einwechslung. Doch der Pole Marcel Borski, der vierte Offizielle, benötigte noch einige Augenblicke für die Organisation des Wechsels. "Eine Chance kriegst du noch", dachte sich Gomez. Er lag absolut richtig. Eine abgefälschte Flanke Sami Khediras von rechts "kam mir genau auf den Schädel, es war nicht mehr so schwer", schilderte er die Szene des Spiels, als er in der Rückwärtsbewegung zum erlösenden 1:0 einköpfen konnte.

Normalerweise sind dem Siegtorschützen eines EM-Spiels die Lobeshymnen sicher, für die dieser sich dann auch artig bedankt. "Das spricht für seine Qualität. Eine Chance - ein Tor!", kommentierte Bundestrainer Joachim Löw, der sich bestätigt sah, den noch nicht ganz fitten Klose draußen zu lassen. Gomez wiederum freute sich, dass er das in ihn gesetzte Vertrauen mit dem Tor zurückgeben konnte: "Es war ein weiter Weg bis hierhin."

Doch Mehmet Scholl , der den EM-Auftakt der Deutschen am Sonnabend für die ARD als Experte beobachtete, hatte keine Lust, Gomez den (Fußball-)Heldenstatus zu verleihen, und kritisierte stattdessen mit drastischen Formulierungen, dass er die nötige Einsatzbereitschaft vermisst habe. "Ich hatte zwischendrin Angst, dass er sich wund gelegen hat, dass man ihn wenden muss", ätzte Scholl, der Gomez so ganz nebenbei die Tauglichkeit für modernen Fußball absprach: "Man braucht heutzutage Stürmer, die auch nach hinten laufen. Das gibt es eigentlich nicht mehr, dass ein Spieler einfach nur zentral bleibt, keinen Ball kurz haben will, sondern nur irgendwo auf Flanken hofft oder auf einen Laufweg, der sich auftut, auf eine freie Straße, die er benutzen kann." Scholls Fazit: "Insgesamt ist das zu wenig."

Scholls Analyse im Video:

Zweifellos war es am Sonnabend kein maßgeschneidertes Spiel für Mario Gomez, da die portugiesische Defensive dem deutschen Aufbauspiel so gut wie keine Räume zur Entfaltung ließ. Dennoch war Gomez sichtlich bemüht, auch mit dem Rücken zum Tor anspielbar zu sein - obgleich der Ertrag mäßig war. Dass die Tausenden deutsche Anhänger nach der Pause mit lauten "Klose, Klose"-Rufen indirekt die Auswechslung von Gomez forderten, erhöhte den Druck zusätzlich.

+++ Beckmann: "Scholl spricht, wie er gespielt hat" +++

Wenigstens konnte sich Gomez nach dem Abpfiff der Rückendeckung seiner Kollegen sicher sein. "Sein Tor war die beste Antwort auf die Kritik", reagierte Mats Hummels, gegen Portugal der überragende Mann auf dem Platz (siehe Bericht Seite 20). Er habe das in der Manier eines Weltklassestürmers gemacht: "Mario ist eiskalt vor dem Tor." Auch Lothar Matthäus nahm den Torjäger in Schutz: "Ich finde die Kritik an Gomez nicht berechtigt. Er ist ein klassischer Strafraumstürmer, also wieso sollte er auf die Flügel ausweichen?", sagte der Rekordnationalspieler (150 Einsätze) bei Sport1.

Ein Blick auf die Torquote gibt seinen Verteidigern recht: Beeindruckende 45 Treffer in 58 Pflichtspielen erzielte Gomez in dieser Saison. Und dennoch befeuerte Scholl die Diskussion vor dem kommenden Gruppenspiel gegen die Niederlande am Mittwoch (20.45 Uhr): Gomez oder Klose, mit welchem Stürmer steigt die Wahrscheinlichkeit auf den Titelgewinn?

+++ Kommentar: Mein lieber Scholl +++

Während Gomez (23 Tore in 53 Länderspielen) mit seinen Vollstreckerqualitäten Pluspunkte sammelt, konnte die DFB-Auswahl auch dank der fußballerischen Fähigkeiten von Klose (63 Tore in 117 Spielen) in der jüngsten Vergangenheit etliche offensive Spektakel aufführen. Der Profi von Lazio Rom entspricht mit seinem laufintensiven Stil genau den Anforderungen Scholls.

Und Klose? Der seit Sonnabend 34-Jährige erfuhr Freitagabend in einem Gespräch mit dem Bundestrainer, dass er - für viele Experten überraschend - erstmals seit der EM 2004 wieder einmal den Beginn eines Turniers von der Bank erleben würde. Getreu seinem Naturell nahm es Klose sportlich ("Mario hat es sehr gut gemacht, ich muss nun dranbleiben und auf meine Chance warten") und scherzte sogar über seine verspätete Einwechslung durch den Treffer von Gomez: "Keiner hat den Ball rausgeschossen, das war das Problem."

Statistik

Deutschland: Neuer/Bayern München (26 Jahre/27 Länderspiele) - Boateng/Bayern München (23/22), Hummels/Borussia Dortmund (23/15), Badstuber/Bayern München (23/21), Lahm/Bayern München (28/87) - Schweinsteiger/Bayern München (27/91), Khedira/Real Madrid (25/28) - Müller/Bayern München (22/28) ab 90.+4 Bender/Bayer Leverkusen (23/7), Özil/Real Madrid (23/34) ab 87. Kroos/Bayern München (22/27), Podolski/1. FC Köln (27/98) - Gomez (26/53) ab 80. Klose/Lazio Rom (34/117). - Trainer: Löw

Portugal: Rui Patricio/Sporting Lissabon (24/12) - Joao Pereira/Sporting Lissabon (28/15), Pepe/Real Madrid (29/40), Bruno Alves/Zenit St. Petersburg (30/51), Fabio Coentrao/Real Madrid (24/23) - Miguel Veloso/FC Genua (26/25) - Joao Moutinho/FC Porto (25/44), Raul Meireles/FC Chelsea (28/57) ab 81. Varela/FC Porto (27/7) - Nani/Manchester United (25/55), Helder Postiga/Real Saragossa (29/50) ab 70. Oliveira/Benfica Lissabon (20/4), Cristiano Ronaldo/Real Madrid (27/91). - Trainer: Bento

Schiedsrichter: Stephane Lannoy (Frankreich)

Tor: 1:0 Gomez (72.)

Zuschauer: 32.990

Beste Spieler: Hummels, Neuer - Miguel Veloso, Bruno Alves

Gelbe Karten: Badstuber - Helder Postiga, Fabio Coentrao