Das unglaublich erscheinende 4:4 gegen Schweden deckte schonungslos auf, was der deutschen Nationalmannschaft noch zur Weltspitze fehlt.

Berlin/Hamburg. Am Tag danach machte ein Spruch von Gary Lineker die Runde. "Fußball ist ein einfaches Spiel, bei dem 22 Männer 90 Minuten lang einem Ball hinterherjagen, und am Ende verspielen die Deutschen eine 4:0-Führung", korrigierte Englands ehemaliger Nationalstürmer via Twitter seinen legendären Satz, wonach am Ende immer die Deutschen gewinnen, egal wie schlecht sie auch waren. Wie Lineker waren 72 369 Menschen im Berliner Olympiastadion und 13,18 Millionen TV-Zuschauer Zeuge eines unvergleichlichen Abends geworden. Eine so starke Stunde wie beim WM-Qualifikationsspiel gegen Schweden hatte man von einer deutschen Nationalmannschaft selten gesehen. Aber nach den vier späten Gegentoren war die entrückte Euphorie tief sitzendem Frust gewichen - Hohn und Spott Marke Gary Lineker inklusive.

Niemandem im deutschen Lager war der Sinn danach, diese Partie als Sonderfall, als rauschhafte Einzelerscheinung abzutun, weil sich in diesen 90 Minuten von Berlin sowohl die Schönheit des deutschen Fußballs zeigte als auch die Schattenseite. "In der Kabine herrschte nach dem Spiel eine Totenstille", berichtete Löw, die Spieler lagen fassungslos auf den Bänken.

"Wir machen häufig den Fehler, dass wir den Gegner dominieren und dann durch Nachlässigkeiten wieder ins Spiel bringen", kritisierte Oliver Bierhoff. "Zuletzt war das gegen Österreich so, die gleiche Tendenz gab es während der EM gegen die Griechen und Niederländer zu beobachten. Das fehlt, gerade in kritischen Momenten, um ganz nach oben zu kommen."

In seltener Schärfe kündigte der Manager der Nationalmannschaft an, man müsse "den Finger in die Wunde legen", dürfe nicht zur Tagesordnung übergehen. "Man verfällt immer wieder in die gleichen Muster. Diese Muster müssen wir durchbrechen." Was Bierhoff besonders störte, war die mangelnde Lernfähigkeit der Nationalspieler. Joachim Löw hatte beispielsweise Manuel Neuer klar angewiesen, keine langen Bälle nach vorn zu schlagen. In der Nachspielzeit jedoch führte genau so ein langer Abschlag zum entscheidenden Ballbesitz für die Schweden.

Bierhoff schlägt Alarm, weil er sich vor allem um die mentale Stärke der DFB-Auswahl sorgt. "Für mich war das Spiel eine psychologische Kettenreaktion. Man macht nach der hohen Führung weniger, wird oberflächlich, gewinnt weniger Zweikämpfe, lässt Chancen des Gegners zu, fängt an zu wackeln. Und dann sind wir nicht in der Lage, den Stecker wieder reinzustecken."

Bei der Analyse, warum Deutschland seit 2006 immer kurz vor einem möglichen Titelgewinn scheiterte, wird schnell ersichtlich, dass diese fehlende mentale Kraft bei Widerstand oder Rückschlägen stets ein Hauptproblem darstellte. Und man braucht kein Prophet zu sein, um vorherzusehen, dass dieses 4:4 gegen Schweden alte Diskussionen wiederbeleben wird: Es werden nicht nur Fragen kommen nach der Wackel-Defensive, sondern vor allem nach den fehlenden Führungsspielern im Team, die in solchen kritischen Phasen den verunsicherten Kollegen Halt bieten. Und auch die Coaching-Qualitäten Löws werden sicher weiter hinterfragt.

Nach Meinung des früheren Volleyball-Bundestrainers Olaf Kortmann, der heute in Hamburg als Mentalcoach arbeitet, verpasste es Löw offensichtlich in der Pause, seinem Team die richtige taktische Grundausrichtung für die zweite Hälfte mitzugeben: "Die Mannschaft hat sich an sich selbst berauscht, sie wollte in Berlin, vor den Augen der Bundeskanzlerin, ein Torfestival vorführen. Dabei hat sie sich Undiszipliniertheiten geleistet. Löw hätte die Aufgabe gehabt, die taktische Grundausrichtung anzumahnen, um das Ergebnis nach Hause zu bringen."

Nach den schnellen Toren zum 4:1, 4:2 und 4:3 habe bei den Nationalspielern, so Kortmann weiter, deutlich erkennbar das Reflektieren eingesetzt, das Nachdenken. "Das hat dann zur Schockstarre geführt. "

Dabei ist die Nationalmannschaft doch gespickt mit erfahrenen Kräften. Aber wo waren ein Philipp Lahm, ein Per Mertesacker, ein Bastian Schweinsteiger, ein Miroslav Klose? Die große Gefahr für den DFB: Gerade bei Spielern wie Schweinsteiger, der sich erst munter am Sturm und Drang beteiligte und später hilflos wirkte, könnte sich auch in vergleichbaren Extremsituationen die lähmende Angst vor dem Versagen wieder ausbreiten. Schließlich hat der Bayern-Profi auch mit seinen Münchnern heftige Niederlagen wie im Champions-League-Finale gegen Chelsea einstecken müssen.

Wie sich ein Ausnahmeathlet im Idealfall verhält, zeigte Zlatan Ibrahimovic. "Er hat in der Kabine zu den anderen Spielern gesprochen und eine richtig gute Rede gehalten. Er ist ein toller Kapitän", sagte der schwedische Trainer Erik Hamrén: "Er hat toll gekämpft und die anderen Spieler mitgezogen. Das zeigt seine Stärke." Auffällig, wie er nach dem Treffer zum 4:1 den Ball aus dem Netz holte und zum Anstoßkreis sprintete, um das klare Signal zu geben: Hier geht noch was!

Laut Kortmann könnte sich das 4:4 gegen Schweden aber auch als lehrreiche Lektion positiv auswirken, als Warnung, eine bessere Balance zwischen Hurrafußball und klarer taktischer Disziplin zu finden. "Ich würde die Spieler in die Verantwortung nehmen, sie fragen: Was müssen wir tun, damit uns das nicht noch einmal passiert, also lösungsorientierte Fragen stellen", schlug Kortmann vor.

Ob Löw die nötige Kraft und die richtigen Ansätze hat, um an den Schwächen zu arbeiten, wird sich zeigen. In den vergangenen Wochen wirkte der Bundestrainer längst nicht mehr so souverän wie früher. Er wird sich in der Nachbetrachtung überlegen müssen, warum er es unterließ, gegen Schweden einen dritten Einwechselspieler zu bringen, um so wertvolle Zeit zu schinden. Und: Der 52-Jährige konnte seiner Mannschaft nicht nur während des Spiels keine Hilfestellung leisten, auch nach dem Abpfiff wirkte er ratlos: "Da ist vieles schiefgelaufen. Woran das lag, muss ich erst mal analysieren, um mich konkret zu äußern. Wahrscheinlich begann das Problem im Kopf. Dass wir uns so aus dem Rhythmus bringen lassen, habe ich nicht erwartet. Dieses Spiel muss uns eine Lehre für alle Zeiten sein."

Das Problem jedoch ist, dass Schwächen dieser Art nicht so leicht zu beheben sind. "Wir müssen wie nach dem Österreich-Spiel knallhart analysieren, die Fehler ansprechen in der Hoffnung, das die wiederholten Anweisungen in den Kopf gehen und es klick macht", forderte Bierhoff zwar, um im nächsten Satz seine Hoffnung auf eine schnelle Heilung zu relativieren: "Das ist keine Sache, die man einmal sagt und die dann umgesetzt wird." Immerhin: Ausgerechnet Ibrahimovic, der an diesem legendären Abend für die Wende sorgte, tröstete die Deutschen, indem er ankündigte: "Wir haben gegen den kommenden Weltmeister gespielt."