Tiflis. Im EM-Qualifikationsspiel in Tiflis ist Deutschland unter Erfolgsdruck. Ex-Georgien-Trainer Klaus Toppmöller hält eine Sensation für möglich.

Toppmöllers Lächeln spürt man fast durch das Telefon. Der frühere HSV-Coach, der von 2006 bis 2008 die georgische Nationalmannschaft trainierte, hatte schon vor der Reise nach Tiflis gesagt: „Fragen Sie irgend­jemanden nach mir. Die werden alle den Daumen hochheben, wenn sie meinen Namen hören. Ich habe Frankfurt, Bochum, Leverkusen und den HSV trainiert – aber nirgendwo war es so schön wie in Georgien.“

Einen oberflächlichen Eindruck, wie schön Tiflis tatsächlich ist, werden Deutschlands Elitefußballer wohl erst an diesem Sonnabend erhalten. Die Mannschaft von Bundestrainer Joachim Löw kam am Freitagabend um 21.15 Uhr (Ortszeit) an und ließ sich direkt ins noble Radisson Blu Iveria am Rose Revolution Square eskortieren. Viel Zeit für Sightseeing dürfte an diesem Wochenende aber nicht eingeplant sein. „Wir wissen, dass wir gewinnen müssen“, hatte Löw vor dem Abflug aus Frankfurt den Sinn und Zweck des DFB-Betriebsausflugs überdeutlich skizziert. Dabei hätte ein kurzer Blick auf die Tabelle der Gruppe D in der laufenden EM-Qualifikation bereits gereicht: Weltmeister Deutschland ist hinter Polen und Irland nur Dritter, hat lediglich sieben von möglichen zwölf Punkten geholt. Ein Sieg am Sonntag (18 Uhr/RTL, Liveticker auf abendblatt.de) gegen den Tabellenvorletzten Georgien, den 126. der Weltrangliste, ist Pflicht.

„Wenn die deutsche Mannschaft so spielt, wie sie es kann, dann hat Georgien keine Chance“, sagt Toppmöller, der dann aber doch eine Einschränkung macht: „Eine Sensation ist trotzdem möglich – sie ist aber nur möglich, wenn Deutschland sie zulässt.“

Das Problem: Nach dem WM-Titel hat Deutschland bereits manch ein Sensatiönchen zugelassen. 0:2 in Polen, 1:1 gegen Irland und nun auch noch das schmeichelhafte 2:2 am Mittwoch in Kaiserslautern gegen Australien. „Deutschland sollte auf keinen Fall den Fehler machen, Georgien zu unterschätzen. Sie haben einige gute Einzelkönner, aber eben keine elf Weltklassefußballer“, sagt Toppmöller, der noch eine ganze Reihe von aktuellen Nationalspielern selbst trainiert hat. Ein entscheidender Faktor könnte seiner Meinung nach auch die Begeisterung im Boris-Paitschadse-Stadion sein: „Das Stadion könnte zum Hexenkessel werden, wenn die Georgier merken, dass es eine reale Chance auf eine Sensation gibt. Und auch die Eintrittspreise sind wichtig. Wenn die Karten zu teuer sind, dann kommt keiner. Das war in meiner Zeit in Georgien häufiger der Fall.“

Der georgische Verband wollte diesmal aber nichts dem Zufall überlassen. Die Karten kosten zwischen zehn und 30 Lari, umgerechnet also zwischen vier und zwölf Euro. Was nach wenig klingt, ist allerdings immer noch ziemlich viel, wenn man bedenkt, dass sich das georgische Durchschnittseinkommen im vergangenen Jahr gerade wieder auf knapp 360 Euro im Monat reduziert hat.

„Trotzdem ist Georgien ein Land im Aufbruch“, sagt Claas Morlang, und zeigt aus dem Fenster auf eine Großbaustelle direkt neben seinem Büro: „Überall wird gebaut. Die Georgier orientieren sich immer mehr an europäischen Standards.“ Der Hamburger, der mit der ganzen Familie am Sonntag ins Stadion geht, arbeitet in Tiflis bei der UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen.

Von Fußball habe er zwar nicht allzu viel Ahnung, aber dass ein georgischer Sieg gegen den vermeintlich übermächtigen Weltmeister das kleine Land am Kaukasus zusätzlich beflügeln würde, daran glaubt der 40 Jahre alte Duvenstedter schon: „Es ist noch lange nicht alles gut in Georgien, aber das Land macht sich so langsam. Ein Sieg gegen Deutschland wäre natürlich eine echte Sensation.“

Und wie man Sensationen feiert, davon kann besonders Toppmöller ein Lied singen. Unter seiner Ägide hat Georgien 2:0 gegen Schottland gewonnen, auch Uruguay wurde 2:0 geschlagen. Doch bis heute unvergessen im Land, in dem es vor allem um Rugby und Ringen geht, ist ein überraschender 1:0-Sieg gegen die Türkei. 150.000 Georgier hatten damals nach dem Erfolg gegen den Erzrivalen auf dem zen­tralen Tavisupleba-Platz bis in den frühen Morgen hinein gefeiert. „Für die Leute war dieser Sieg das Größte überhaupt“, sagt Toppmöller in seinem typischen Pfälzer Singsang, der fast genauso schwer zu verstehen ist wie Georgisch. „Danach konnte ich im Präsidentenpalast ein und ausgehen, war jeden Abend das Hauptthema in den Nachrichten.“

Ob auch Toppmöllers Nachfolger Kachaber Zchadadse am Sonntag zum Volkshelden wird, ist allerdings zu bezweifeln. Die Zeit der großen Stars wie dem früheren Mailänder Kacha Kaladse und den einstigen Freiburgern Aleksandre Iaschwili und Lewan Kobiaschwili ist längst vorbei. „Aber Georgien hat noch immer tolle Fußballer“, sagt Toppmöller, und nennt Jaba Kankava. Den Mittelfeldspieler, der in der Ukraine bei Dnjpre Dnjepropetrowsk sein Geld verdient, habe er selbst noch trainiert.

Allerdings glauben sowohl Experte Toppmöller als auch Nichtexperte Morlang, dass Deutschland am Sonntag ganz anders auftreten wird als beim 2:2 gegen Australien. Und tatsächlich kann man davon ausgehen, dass Löw mit Geburtstagskind Manuel Neuer, Jerome Boateng, Mats Hummels, Toni Kroos, Thomas Müller und Bastian Schwein­steiger gleich auf sechs Weltmeister setzt, die am Mittwoch in Kaiserslautern noch eine Pause erhalten haben. Diesmal ganz sicher pausieren werden in Tiflis dagegen Karim Bellarabi (Grippe) und Holger Badstuber (muskuläre Probleme am Hüftbeuger), die gar nicht erst mitgeflogen sind.

Sehr zum Bedauern von Morlangs Töchtern Emilia, Luise (beide 7) und Helena, 5, wird am Sonntag noch ein Protagonist fehlen: Bundeskanzlerin Angela Merkel. „Weil Frau Merkel bei der WM immer auf der Tribüne zu sehen war, dachten meine Töchter, dass sie bei jedem Fußballspiel dabei ist.“ Versöhnt waren die drei Morlang-Mädels aber, als sie hörten, dass Nationaltrainer Joachim Löw („Kommt der auch?“) ganz sicher dabei ist.

Und Toppmöller? „Ich schaue mir das Ganze entspannt im Fernsehen an.“ Und spätestens nach 90 Minuten wird er wissen, ob am Sonntag der Daumen für Deutschland nach oben oder nach unten geht.

Georgien: Loria – Kaschia, Kvirkvelia, Amisulaschwili, Nawalowski – Kankava, Kobachidse – Okriaschwili, Kasaischwili, Kenia – Mtschedlidse

Deutschland: Neuer – Höwedes, Boateng, Hummels, Hector – Schweinsteiger, Kroos – Müller, Özil, Reus – Götze

Schiedsrichter: Turpin (Frankreich)