Philipp Lahm beendet überraschend seine Karriere in der Nationalelf. Für den deutschen Fußball ein herber Verlust

Berlin. Vor dem Spiel schüttelte er Lionel Messi die Hand, danach die der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff, bevor er den WM-Pokal in die Höhe reckte. Zu diesem Zeitpunkt wusste Philipp Lahm bereits, dass er soeben sein letztes Länderspiel absolviert hatte. Fünf Tage nach dem Titelgewinn in Rio de Janeiro ist er offiziell aus der Nationalmannschaft zurückgetreten. Der 30-Jährige wird ab sofort nicht mehr für die DFB-Auswahl spielen, gab er am Freitag bekannt. Ein Schritt, den er schon lange vor der Weltmeisterschaft erwogen hat. Und über den nur seine engsten Vertrauten informiert waren. „Der Entschluss ist in mir während der letzten Saison gereift“, sagte er. Am Montag dann, einen Tag nach dem Finale, teilte er Bundestrainer Joachim Löw die Entscheidung beim Frühstück mit.

„Das ist der richtige Zeitpunkt für mich“, teilte Lahm auf „Welt“-Anfrage mit, „jetzt habe ich die Zeit und die Ruhe, im Urlaub emotional mit dieser Entscheidung klarzukommen. Die angenehme Pflicht ist jetzt erfüllt.“ Er verlasse die Auswahl „in völliger Harmonie“ mit dem Deutschen Fußball-Bund (DFB). Die Entscheidung zum Rücktritt sei bei ihm in der vergangenen Saison gereift: „Da habe ich für mich den Entschluss gefasst, dass die WM in Brasilien mein letztes Turnier sein wird.“ Lahms Berater Roman Grill bestätigte der „Welt“, dass ihn sein Klient bereits „im Oktober oder November“ darauf angesprochen habe, dass die WM möglicherweise sein letztes Turnier sei. Die Reaktionen auf Lahms Entscheidung waren gewaltig, als ob ein bedeutender Staatsmann zurückgetreten wäre. „Ich möchte ihm meinen größten Respekt für das aussprechen, was er für die Nationalmannschaft geleistet hat“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Weltmeister zu werden ist sicher eine Mannschaftsleistung, aber der Kapitän hat damit auch etwas zu tun.“

DFB-Präsident Wolfgang Niersbach war von Lahm am Freitagmorgen informiert worden. „Philipp hat mich angerufen und persönlich über diesen Schritt informiert. Ich habe in dem Gespräch sehr schnell gemerkt, dass es aussichtslos ist, ihm seine Entscheidung ausreden zu wollen“, sagte Niersbach. Lahm sei in den zehn Jahren bei der Nationalmannschaft nicht nur ein herausragender Spieler, sondern immer ein absolutes Vorbild gewesen: „Ich habe ihm für all das gedankt, was er für den DFB geleistet hat.“

Generalsekretär Helmut Sandrock schloss sich den Worten des Präsidenten an: „Philipp ist nicht nur ein herausragender Spieler, sondern auch neben dem Platz eine große Persönlichkeit. Ich habe ihn in den Gesprächen und Verhandlungen bei der Nationalmannschaft immer als absolut ehrlich, verlässlich und fair erlebt.“ Sogar Fifa-Boss Sepp Blatter meldete sich per Twitter zu Wort und schrieb: „Philipp Lahm ist ein Vorbild. Seine brillante Karriere wird nach seinem DFB-Rücktritt weitergehen.“ Der Rücktritt bezieht sich nur auf die Nationalmannschaft. Beim FC Bayern hat Lahm noch vor der WM einen neuen Vertrag bis 2018 abgeschlossen, den er erfüllen möchte. „Es gibt wohl keinen besseren Abschied, denn als Weltmeister auf dem Höhepunkt einer Karriere Schluss zu machen“, sagte der Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge.

Für den deutschen Fußball ist Lahms Demission ein herber Verlust. Er debütierte 2004, spielte sechs große Turniere, war Kapitän der Weltmeistermannschaft und eine der wichtigsten Führungsfiguren im Team. Ein eher stiller Anführer, kein Redenschwinger. Aber bei den Mitspielern hochgeachtet. Gerade die jüngeren Spieler suchten das Gespräch mit ihm. Er war ein Integrator, der die Mannschaft als eine Einheit sah, nicht als Stückwerk aus Einzelspielern. Herber noch als der Verlust eines Leitwolfs ist Lahms Rücktritt in sportlicher Hinsicht. Er war der begabteste Defensivspieler im Team, flexibel einsetzbar und technisch nah an der Perfektion. Die WM 2014 ist das beste Beispiel dafür. In der Vorrunde brachte Bundestrainer Joachim Löw ihn als Sechser im defensiven Mittelfeld, beorderte ihn dann nach dem Achtelfinale gegen Algerien zurück auf die rechte Abwehrseite.

Auf beiden Positionen spielte er mit jener unglaublichen Abgeklärtheit, die schon immer sein Markenzeichen war. Er ist kein Zampano, der seinen Gegner mit dreifachem Übersteiger verhöhnen will. Seine Qualität liegt in seiner Fehlerlosigkeit: Lahm unterlaufen kaum Fehlpässe, er ist im Dribbling kaum vom Ball zu trennen, hat eine überragende Übersicht.

Sportlich ist er nicht gleichwertig zu ersetzen, diese bittere Erkenntnis muss Joachim Löw jetzt schlucken. Zwar werden die Positionen, auf denen Lahm spielen konnte, anderweitig besetzt. Jerome Boateng wird wohl wieder hinten rechts spielen, als Doppelsechs stehen weiterhin Schweinsteiger und Khedira bereit. Doch jene Flexibilität, die Lahm garantierte, wird es nicht mehr geben. Er war der einzige Weltstar, den Deutschland auf einer Abwehr-Außenposition hatte.

In die emotionale Bresche wird nun wohl Lahms Vereinskamerad Bastian Schweinsteiger springen. Er ist der logische Nachfolger als Kapitän. Löw hatte ihn ja bereits zum „Emotional Leader“ ausgerufen. Nun wird er aller Voraussicht nach die Binde übernehmen, die Lahm 2010 von Michael Ballack geerbt hatte. Damals, in Südafrika, hatte der sonst so brav wirkende Lahm Zähne gezeigt. In Abwesenheit von „Capitano“ Ballack rüttelte er an der Überfigur. „Die Rolle des Kapitäns macht mir sehr viel Spaß. Ich habe Freude daran. Wieso sollte ich das Amt freiwillig abgeben?“, sagte er noch während der WM.

Ballack kam nie wieder, ging in die Fußballgeschichte ein als „Unvollendeter“, der nie einen großen internationalen Titel gewonnen hat. Lahm aber führte die Nationalmannschaft anschließend ins Halbfinale der Europameisterschaft 2012 und zwei Jahre später zum WM-Titel. Zwischenzeitlich gewann er mit dem FC Bayern auch die Champions League. Nun ist er nach 113 Länderspielen zurückgetreten. Er geht als Vollendeter, als „Anti-Ballack“. Der deutsche Fußball wird ihn vermissen. Gut möglich, dass der Deutsche Fußball-Bund ihn beizeiten zum Ehrenspielführer ernennen und ihm ein großes Abschiedsspiel widmen wird.