Das Abendblatt hat drei junge Deutsch-Brasilianer in Rio zum Gespräch gebeten. Das Interview sollte 90 Minuten dauern – so lange wie ein Fußballspiel. Doch es wurde ein vierstündiger Gesprächsgipfel über Heimatgefühle, zwei Herzen in einer Brust, lackierte Fingernägel – und natürlich das Halbfinale

In „Mikes Haus Imbiss“ in Rios Stadtteil Santa Teresa stehen Teelichte auf dem Tresen: eines in Schwarz, eines in Rot und eines in Gold. „Mikes Haus“ ist eine deutsche Kneipe. Currywurst und Frikadellen findet man auf der Karte, aber nur brasilianisches Bier. Der beste Ort also in Rio, um über das Halbfinale der WM zwischen Deutschland und Brasilien am heutigen Dienstag (22 Uhr/ZDF) zu sprechen.

Zum Interview haben wir drei junge Deutsch-Brasilianer eingeladen: Clarissa Batista de Lima, 23, ist in Rio geboren. Mit sieben Jahren zog sie zusammen mit ihren Eltern nach Leipzig und später nach Berlin. Sie studiert Sprachen und ist für ein Austauschsemester in Rio. Julia Preuss, 28, ist als Tochter eines Deutschen und einer Brasilianerin in Bremen geboren und aufgewachsen. Aus Liebe zog sie nach Rio und arbeitet am hiesigen Goethe-Institut. Ihre Nägel trägt sie gelb und grün lackiert, was schon vorwegnimmt, für wen ihr Herz schlägt. Als André Leão Grötzinger, 35, ins Lokal kommt, grüßt er mit „Moin“. Grötzinger ist in São Paolo geboren und zog mit neun Jahren ohne Deutschkenntnisse nach Krefeld. In Hamburg hat er BWL studiert und arbeitet hier nun für eine Bank. Für die WM hat er sich Urlaub genommen und reist zusammen mit Freunden zu jedem Spiel der deutschen Mannschaft. Drei Menschen, zwei Kulturen, ein Thema: Fußball.

Hamburger Abendblatt: Frau Preuss, Frau Batista, Herr Grötzinger, jetzt müssen Sie Farbe bekennen: WM-Halbfinale, Brasilien gegen Deutschland, wer gewinnt?
Clarissa Batista: Deutschland.

Julia Preuss: Wie kannst du das sagen? Natürlich gewinnt Brasilien.

Batista: Mein Herz sagt Brasilien. Aber mein Kopf sagt Deutschland. Die Deutschen sind einfach besser. Die Seleção hing nur von Neymar ab. Und der fällt nun aus.

Preuss: Einspruch! Was ist mit David Luiz und Hulk? Brasilien ist doch viel mehr als nur Neymar. Und Deutschland hat mich bei dieser WM auch noch nicht vom Hocker gerissen.

André Leão Grötzinger: Jetzt muss ich Einspruch erheben. Deutschland ist klar das eingespieltere Team, sie haben die bessere Taktik, den besseren Trainer und weniger Druck. Deutschland gewinnt.

Ist es für Sie ein Traum-Halbfinale oder das genaue Gegenteil?
Batista: Gut ist, dass mindestens eine von meinen beiden Mannschaften ins Finale kommen wird. Natürlich drücke ich Brasilien ein bisschen mehr die Daumen, aber für mich wäre es auch nicht schlimm, wenn Deutschland gewinnt.

Preuss: Du bist ja ein toller Fan! Mir geht es da ganz anders. Wenn Brasilien verliert, dann ist die WM für mich vorbei.

Grötzinger: Das kann ich überhaupt nicht verstehen. Ich war bei allen deutschen Spielen in den Stadien und hoffe auf einen deutschen Sieg. Aber wenn Brasilien gewinnt, dann freue ich mich trotzdem. Für mich ist es ein Traum-Halbfinale.

Preuss: Die deutsche Mannschaft ist mir ziemlich egal. Beim Fußball gehört mein Herz einzig und allein der Seleção.

Batista: Komisch, so ähnlich ging es mir bei der WM 2006. Da war ich schon länger in Deutschland. Und da habe ich mich eigentlich nur mit der brasilianischen Mannschaft identifiziert. Aber jetzt ist das anders. Jetzt gehört auch das deutsche Team zu mir.

Spielt der Fußball in Deutschland und in Brasilien eine ähnlich große gesellschaftliche Rolle?
Batista: Auf keinen Fall. In Deutschland mag Fußball wichtig sein, aber in Brasilien ist er Religion. Und zwar nicht nur während der WM. Mein Vater ist beispielsweise ein fanatischer Anhänger des Clubs Botafogo. Der hat sich schon bei unserer Anreise am Flughafen mit einem Flughafenmitarbeiter gestritten, weil dieser ein Flamengo-Shirt getragen hat. In Brasilien dreht sich alles um Fußball.

Preuss: Wenn man jemanden kennenlernt, dann ist immer die erste Frage: Für welche Mannschaft bist du? Immer.

Grötzinger: Vielleicht freut man sich in Brasilien mehr über Fußball, weil man sonst auch nicht so viel hat, worüber man sich freuen kann. Fußball ist ganz tief in den Herzen der Leute verankert, das ist anders als in Deutschland.

Welche Rolle spielt die Seleção? Ist sie der kleinste gemeinsame Nenner in Brasilien?
Preuss: Die Seleção verbindet. Die Brasilianer sind stolz auf ihre Mannschaft. Ich finde aber ganz schön, dass mittlerweile auch die Deutschen stolz sind auf ihre Mannschaft. Das hat bei der WM 2006 angefangen. Plötzlich sind die Leute mit ihren Flaggen durch die Stadt gezogen oder haben die Fahne am Balkon aufgehängt. Das hat es früher ja nicht gegeben. In Brasilien war das schon immer normal.

Grötzinger: Wobei ich diesen brasilianischen Patriotismus übertrieben finde. Hier denkt man, dass Brasilien der Nabel der Welt ist. Man kennt nichts anderes – und man interessiert sich auch für nichts anderes.

Preuss: Die Brasilianer sind definitiv patriotischer als die Deutschen.

Batista: Wir haben eine ganz komische Form von Patriotismus. Eigentlich finden wir Brasilianer ja auch nicht alles toll bei uns. Und wir kritisieren auch viel. Aber sobald jemand anderes Brasilien kritisiert, sind wir automatisch in so einer Verteidigungsposition. Es klingt paradox, aber als Nicht-Brasilianer im Ausland darf man Brasilien einfach nicht kritisieren.

Welche Nationalhymne werden Sie vor dem Halbfinale mitsingen?
Grötzinger: Ich singe bei beiden mit.

Preuss: Ich muss gestehen, dass ich die brasilianische Hymne gar nicht bis zum Schluss auswendig kann. Da bewege ich dann ein wenig die Lippen zur Melodie.

Batista: Ich kann auch nur den Anfang der brasilianischen Hymne. Aber bis zum Spiel lerne ich dann auch noch den Rest. Die deutsche Hymne singe ich nicht mit. Bei meinen Fingernägeln achte ich aber darauf, dass beide Nationen vertreten sind. (lacht) Die eine Hand wird grün, gelb und blau lackiert, die andere schwarz, rot und gold.

Preuss: Ich bin abergläubisch. Meine Fingernägel bleiben in den Brasilienfarben, bis die Seleção ausscheidet.

Batista: Auch die Nägel fiebern mit.

Grötzinger: (lacht) Meine Fingernägel bleiben so, wie sie sind. Ich belasse es dabei, mir ein Deutschland-Trikot anzuziehen.

Für Deutschlands Auswärtstrikot wurden die Farben von Flamengo Rio de Janeiro ausgesucht, um möglichst viele Brasilianer während des Turniers auf die deutsche Seite zu ziehen. Ist die Taktik aufgegangen?
Batista: Die Deutschen sind nicht unbedingt beliebt, sie sind gefürchtet. Kein Brasilianer wollte, dass Deutschland unser Gegner im Halbfinale wird. Weil jeder weiß, dass sie besser sind.

Grötzinger: Ich habe schon das Gefühl, dass die Brasilianer Deutschland in ihr Herz geschlossen haben. Also meine Jungs und ich sind eigentlich überall extrem nett aufgenommen worden. Ich hatte schon den Eindruck, dass Deutschland sich zum zweiten Team der Brasilianer gemausert hat.

Preuss: Den Eindruck habe ich auch. Bei Facebook habe ich zum Beispiel ein Video von Manuel Neuer und Bastian Schweinsteiger gesehen, auf dem sie im Bahia-Trikot tanzen. Das kam in ganz Brasilien ziemlich gut an.

Grötzinger: Ein Brasilianer hat mir sogar erzählt, dass man als Ausländer im Taxi betonen sollte, Deutscher zu sein, da man dann nicht übers Ohr gehauen würde.

Haben Sie eine Erklärung für dieses positive Deutschland-Bild?
Grötzinger: Spätestens seit der WM 2006 haben die Brasilianer einen ganz anderen Eindruck von Deutschland. Die Heim-WM war weltweit die beste Deutschland-Werbung überhaupt. Meine Eltern sind genau in dem Jahr wieder zurück von Deutschland nach Brasilien gezogen. Und sie haben mir erzählt, dass sie total überrascht waren, wie positiv in den brasilianischen Medien über Deutschland berichtet wurde.

Preuss: Ein Faktor könnte auch sein, dass Brasilien noch nie ein Problem mit Deutschlands Nationalmannschaft hatte. An Deutschland erinnert man sich ja seit dem gewonnenen Finale 2002 gerne. Die Deutschen haben uns nie um den Titel gebracht.

Kann es einen ähnlich positiven Effekt wie 2006 durch die WM für Deutschland nun auch 2014 für Brasilien geben?
Preuss: Vor der WM war das Bild von Brasilien ja total schlecht. Ich hatte auch große Angst, dass hier Touristen erschossen werden und nichts fertig wird. Für mich war klar: Die WM wird ein Chaos.

Batista: Genau. Das Brasilien-Bild in der Welt wird unter dieser WM leiden, dachte ich.

Grötzinger: Von Deutschland aus betrachtet habe ich Angst gehabt, dass es große Proteste geben wird, die dann eskalieren und bei denen Fußballfans zu Schaden kommen.

Aber das ist weitestgehend ausgeblieben. Hat Sie das überrascht?
Batista: Ja. Alle dachten, wir kriegen diese WM nicht hin. Jetzt hat die Welt gesehen, dass Brasilien das kann.

Die Heim-WM in Deutschland hat auch nach innen Wirkung gezeigt. Die Deutschen haben gesehen: Die Welt mag uns ja doch. Und so hat das Land neues Selbstvertrauen bekommen. Wird es das auch für Brasilien geben?
Preuss: Nein. Die Brasilianer finden sich auch so schon ziemlich klasse.

Batista: Das Selbstbild der Brasilianer wird sich nicht verändern. Dafür aber das Bild von den Politikern hier im Land, wenn Brasilien tatsächlich Weltmeister werden sollte. Dann wäre alle Wut von vor der WM erst einmal vom Tisch.

Grötzinger: Politisch wäre das natürlich fatal für das Land. Plötzlich wäre Brasilien wieder in dieser Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung – und die offensichtlichen Probleme wären damit erst einmal vergessen. Das kann es doch nicht sein.

Warum hat es während der Fußball-Weltmeisterschaft fast keine Proteste mehr gegeben?
Batista: Es gab welche, aber nicht mehr viele. Das lag zum einen sicherlich an der Polizeipräsenz, aber auch daran, dass eben WM ist.

Preuss: Da sieht man mal, welche Kraft der Fußball hat. Wenn in Brasilien der Ball rollt, ist alles andere vergessen. Ich hoffe aber, dass nach der WM weiter protestiert wird, wenn es friedlich bleibt.

Brasilien hat, was den Fußball angeht, ein großes Trauma ...
Grötzinger: (unterbricht sofort) Maracanaço! Die Niederlage der Seleção 1950 gegen Uruguay im Maracanã beim Spiel um den Titel.

Es scheint also noch sehr präsent zu sein in Brasilien.
Grötzinger: Das ist noch immer unglaublich präsent. Wenn Brasilien zum Beispiel in Fortaleza spielt, wird es übertragen auf diese Stadt und heißt dann Fortaleço, wenn eine Niederlage droht.

Preuss: Es ist selbst für junge Leute, die damals noch nicht einmal geboren waren, ein großes Thema. Aber ich sage Ihnen was: Dieses Jahr machen wir es einfach wieder gut.

Angenommen, Brasilien gewinnt gegen Deutschland und verliert im Finale im Maracanã gegen Argentinien, würde das Trauma dann wieder 60 Jahre andauern?
Preuss: Die Frage stellt sich ja gar nicht. Gegen Argentinien darf Brasilien einfach nicht verlieren.

Grötzinger: Wenn das eintreffen würde, wäre es für Brasilien noch schlimmer als das Maracanaço.

Warum?
Grötzinger: Weil Argentinien der Erzfeind ist. Wenn die hier in Brasilien Weltmeister würden, wäre es das Schlimmste, was passieren kann.

Batista: Wenn das passiert, fliege ich sofort zurück nach Deutschland. Das könnte ich nicht ertragen.