Als Nachfolgerin von Dirk Nowitzki trägt die deutsche Hockey-Rekordnationalspielerin die Fahne bei der Eröffnungsfeier in London.

London. Als Natascha Keller am Dienstagnachmittag von Michael Vesper auf dessen Veranda im olympischen Dorf gebeten wurde, dachte sie sich nicht allzu viel dabei. Sicher, in letzter Zeit waren die Spekulationen lauter geworden, dass die Hockey-Rekordnationalspielerin die deutsche Olympiamannschaft ins Stadion führen könnte. Aber diese Entscheidung wollte der Deutsche Olympische Sportbund ja erst am Mittwoch bekannt geben. Und tatsächlich: Vesper, der Generaldirektor des DOSB und Chef de Mission der deutschen Mannschaft, plauderte über dies und das. So ging das eine ganze Weile, und als sich Kellers Aufregung gelegt hatte, wollte Vesper plötzlich fast beiläufig wissen, ob sie nicht Lust habe, am morgigen Freitag bei der Eröffnungsfeier die Fahne zu tragen.

"In diesem Moment bin ich innerlich zusammengesackt", erzählte Keller anderntags, vergeblich darum bemüht, sich das Grinsen von den Lippen zu lecken, "ich war sprachlos, aufgewühlt, euphorisch. Und ich hätte mein Glück am liebsten mit der ganzen Welt geteilt." Aber das ging nicht. Bis gestern um 11 Uhr sollte sie niemandem von der Entscheidung erzählen. Dieses Versprechen hatte sie Vesper geben müssen, bevor sie sich zum Krafttraining wieder unter die Mannschaft mischte.

+++ Hockey-Ikone Natascha Keller führt das deutsche Team an +++

Natürlich sei sie von den Kolleginnen gleich bedrängt worden, "und ich bin ja keine Schauspielerin und will niemanden anlügen". Auch wegen dieser Eigenschaften - und nicht allein wegen ihrer sportlichen Verdienste und fünf Olympiateilnahmen - haben sie sich beim DOSB für sie entschieden. "Natascha Keller ist mit ihrer ganzen Art ein Vorbild: stets bescheiden und bodenständig, zugleich leistungsorientiert und ehrgeizig", sagte Vesper.

Die Entscheidung für Keller sei keine gegen andere Sportler gewesen. Neben dem Hockeybund hatten noch zwei andere Verbände dem DOSB Vorschläge gemacht. Offenbar waren auch Sportschütze Ralf Schumann, der seine siebten Spiele erlebt, Tischtennisspieler Timo Boll, Schwimmerin Britta Steffen und Fechterin Britta Heidemann unter den Kandidaten.

Keller, 35, ist erst die fünfte deutsche Frau, der diese Ehre seit 1908 zuteil wird, und die zweite Repräsentantin einer Mannschaftssportart nach Dirk Nowitzki vor vier Jahren. Damals ehrte der DOSB den Superstar dafür, dass er sich stets selbstlos in den Dienst der Basketballmannschaft stellte. Mit dem Votum für Keller würdigt er eine ganze Sportart, die sich aus deutscher Sicht zur erfolgreichsten der vergangenen Olympischen Spiele entwickelt hat.

So empfand die Berlinerin ihre Wahl als "Riesenauszeichnung" für die große Hockeyfamilie, die über Twitter, Facebook und per SMS gratulierte - und für ihre eigene im Besonderen: "Ich trage die Fahne auch für sie." Ihre Mutter durfte am Dienstagabend als Erste von dem Glück ihrer Tochter erfahren. "Sie war der Ruhepol in unserer Familie, hat selbst nie Hockey gespielt." Der Rest des Keller-Clans war umso erfolgreicher. Großvater Erwin gewann 1936 Olympia-Silber, Vater Carsten 1972 Gold, ebenso Bruder Andreas 1992 und Bruder Florian 2008. Natascha stand 2004 in Athen im deutschen Gold-Team. Bis auf den WM-Titel im Feld hat sie alles gewonnen, was möglich war.

An ihre ersten Spiele, 1996 in Atlanta, hat die Angreiferin vom Berliner HC, die in einer Sportmarketing-Agentur arbeitet, kaum noch Erinnerungen. "Da war ich 19 und ein Küken, das den ganzen Trubel nicht einordnen konnte", sagt sie. 2000 in Sydney und vier Jahre später in Athen verpasste sie die Eröffnungsfeier, weil am nächsten Tag bereits das Auftaktspiel anstand. Vor vier Jahren in Peking genoss sie diese Atmosphäre umso mehr, und sie bewunderte Nowitzki für seine Lockerheit. "Ich hoffe, dass ich das genauso hinkriege, denn er ist größer und stärker als ich", sagte sie gestern. Der Basketballstar twitterte zurück: "So schwer ist die Fahne nicht. Genieß es! Ich freue mich sehr für dich."

Und so wird Natascha Keller, die dank ihrer Olympia-Erfahrungen "vom Küken zu einem gereiften Menschen" geworden ist, versuchen das Gefühl zu genießen, dass alle auf sie schauen. "Früher bin ich vor jeder Kamera geflüchtet, heute funktioniert das gut." Dennoch weiß sie, dass in der Nacht auf Freitag an Schlaf kaum zu denken sein wird. Am meisten fürchtet sie, beim Einmarsch zu stolpern. Aufstehen und weitermachen hat sie allerdings auch beim Hockey gelernt.

Eine Galerie der deutschen Fahnenträger unter www.abendblatt.de/fahne