Beim Prolog am Sonnabend will sich Radsportler Tony Martin seinen Kindheitstraum erfüllen und erstmals in seiner Karriere das Gelbe Trikot erobern.

Lüttich. Fokussiert wird Tony Martin noch einmal tief durchatmen und den Sitz seines futuristischen Helmes kontrollieren, bevor er sich um 16:58 Uhr im Tunnelblick in die vor ihm liegenden die 6,4 Kilometer stürzt: Beim Prolog der 99. Tour de France am Sonnabend in Lüttich ist der Zeitfahrweltmeister einer der größten Favoriten - und könnte sich endlich einen lang ersehnten Wunsch erfüllen. „Ich würde das Gelbe Trikot unglaublich gerne tragen, das ist bei dieser Tour mein großes Ziel“, sagte Martin, der sich am Freitag erstmals ein genaueres Bild von der Strecke machte.

Zwar liegt Martin der kurze Stadtkurs nur bedingt, die wichtigen Voraussetzungen für einen Erfolg hat der 27-Jährige jedoch längst geschaffen. Der Cottbuser ist Perfektionist, überlässt besonders in seiner Spezialdisziplin nichts dem Zufall. Sein Rad für die Rennen gegen die Uhr ist ein bis ins kleinste Detail auf ihn abgestimmtes High-Tech-Gerät, jeder Millimeter in Sattel- oder Lenkerhöhe ist nach Stunden im Windkanal penibel festgelegt. „Wenn ich merke, dass es etwas gibt, dass mich aus dem Rhythmus bringt, weiß ich, dass es nicht mehr zu einer Top-Leistung reicht. Ich bin deshalb sehr interessiert, stehe immer im Dialog mit meinen Mechanikern und Ausrüstern, um dadurch das Optimum rauszuholen.“

Selbst Sandpapier hatte sich Martin lange Zeit auf seinen Sattel geklebt, um nicht auf selbigem zu rutschen und damit im Rennen seine Idealposition zu verlieren. „Es war mein ganz großes Plus, das ich definitiv immer gebraucht habe. Ich war sogar so empfindlich, dass ich gesagt habe, nach ein oder zwei Zeitfahren muss neues rauf. Ich habe das gespürt“, sagte Martin, der sich zur Tour jedoch ungewollt umstellen musste. Der Weltverband UCI hatte zuvor Veränderungen an den Rädern verboten. „Inzwischen haben wir aber eine Lösung gefunden.“

+++ Zwei Favoriten, vier deutsche Hoffnungen und ein Dauerthema +++

Doch nicht nur die Technik muss dafür exakt passen, auch das Umfeld auf den oft wochenlangen und entbehrungsreichen Touren quer über den Kontinent ist für den Familienmenschen Martin ein wichtiger Faktor. Gerade in südlichen Ländern schätzt Martin etwa eine Decke von zu Hause, durch die er ein wenig Heimat auf seinen Reisen dabei hat.

Auch Radprofi Bert Grabsch, mit dem Martin eng befreundet ist und bei der Tour de France ein Zimmer teilt, spielt im Wohlfühlpaket Martins eine große Rolle. „Man ist fast vier Wochen unterwegs. Da ist es doch schön, wenn man ein stückweit Familie um sich rum hat. Es fängt an beim gemeinsamen Fernsehprogramm, wenn man mal einen deutschen Sender kriegt. Man kann sich beim Frühstück auf deutsch unterhalten“, sagte Martin. Grabsch wohnt unweit von Martins Schweizer Wahlheimat in Kreuzlingen, an freien Tagen treffen sich beide öfter zu gemeinsamen Ausfahrten oder Grillabenden.

Entsprechend „geschockt“ war auch Grabsch, als er von Martin schwerem Verkehrsunfall im April hörte, als dieser beim Training mit einem Auto kollidiert war. Besonders für Martin ein prägendes Erlebnis: „Es war ganz komisch, als ich im Krankenhaus aufwachte. Ich konnte mich an nichts erinnern. Das schlimmste Gefühl war diese Hilflosigkeit. Ich hoffe, dass ich das nie wieder erleben werde.“ Noch heute spürt er leichte Taubheit in der linken Gesichtshälfte, an der kleine Narben an den Zusammenstoß erinnern.

In der ersten Nacht im Krankenhaus begann Martin über seinen Sport und dessen Gefahren nachzudenken. Im Training, so die Schlussfolgerung, werde er künftig die Bremse früher ziehen. Nicht aber im Rennen. „Man wäre auch kein guter Radfahrer mehr, wenn man komplett das Gehirn einschaltet und nur noch an die Folgen denkt, dann würde man nur noch an der letzten Position im Feld rumfahren“, sagte Martin.

Auch auf den 6,4 Kilometern des Prologs wird Martin die Bremse so selten wie möglich betätigen - und so vielleicht ganz nach vorne fahren.