Moers . Trainer Jürgen Wagner über die Arbeit mit den Olympiasiegerinnen Ludwig/Walkenhorst und die Chancen bei der WM in Wien.

Jürgen Wagner ist ein Mann mit drei Leben: Beruf, Familie, Beachvolleyball. Die Reihenfolge wechselt. Seine Firma ballsportdirekt.de mit Sitz in Moers bei Duisburg gibt ihm die finanzielle Unabhängigkeit, seinen Leidenschaften zu frönen. Jonas Reckermann/Julius Brink führte der Beachvolleyballtrainer 2012 zum Olympiasieg, 2016 wiederholte er den Triumph mit dem HSV-Duo Laura Ludwig/Kira Walkenhorst.

Wagner (61) liebt das Detail. Seine Examensarbeit, die er mit zwei Kollegen schrieb, umfasste 700 Seiten, sein Teil über Trainingslehre im Volleyball 175. Bei der Beachvolleyball-WM in Wien (28. Juli bis 6. August) steht er vor der nächsten Herausforderung. Nach einem schwierigen Jahr mit vielen Verletzungen wollen Ludwig/Walkenhost an der Donau um eine Medaille spielen.

Herr Wagner, vor zehn Tagen haben Laura Ludwig/Kira Walkenhorst im stark besetzten Einladungsturnier im kalifornischen Long Beach Platz vier belegt. Haben die beiden dort die Fortschritte gezeigt, die Sie erhofft haben?

Jürgen Wagner: Aufgrund der langen Krankheitsphase sind wir deutlich von unserer „Olympiafinal-Form“ entfernt, aber Kira und Laura haben hervorragend gearbeitet. Wir haben viele und gute Schritte nach vorn gemacht. Mein Fazit fällt sehr positiv aus!

Freitag beginnt die WM in Wien. Was erwarten Sie von Ihren Olympiasiegerinnen?

Jürgen Wagner: Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Was ich weiß: Wir haben im Moment eine Situation, die ist suboptimal.

Das war nach Laura Ludwigs Schulteroperation im vergangenen Dezember an der Supraspinatussehne doch zu erwarten.

Jürgen Wagner: Das ist falsch. Der Plan, Laura bis zur WM fit zu kriegen, ist aufgegangen. Sie kann seit gut einem Monat wieder alle Schläge mit ihrem rechten Arm ausführen, sie ist physisch auf einem hohen Niveau. Ich bin überzeugt, wäre zuletzt alles halbwegs reibungslos verlaufen, wären beide in sehr guter Form in Wien angetreten.

Dann fiel Kira Walkenhorst mit einer Virus- und bakteriellen Infektion aus.

Jürgen Wagner: So etwas passiert im Sport nun mal. Der Zeitpunkt war nicht der günstigste. Der Spielrhythmus, den beide zu diesem Saisonzeitpunkt haben sollten, fehlt dadurch. Beide sind aber erfahren und willensstark genug, das zu kompensieren.

Sind Sie als Trainer in solchen Situationen nicht ziemlich machtlos?

Jürgen Wagner: Mein Job ist es herauszufinden, in welchem Bereich wer welchen Status hat, was ist zu tun, um sich wieder die entsprechende Qualität zu erarbeiten. Und dann müssen wir sehen, was geht.

Sie leben in Moers, haben dort Ihre Firma und sind nur noch selten im Training dabei. Wie können Sie da eingreifen?

Jürgen Wagner: Wir kommunizieren viel, und mit Helke Claasen haben wir am Olympiastützpunkt in Hamburg eine hervorragende Co-Trainerin. Helke ist richtig gut.

2016 haben Ludwig/Walkenhorst alles gewonnen, was es zu gewinnen gab, waren der Konkurrenz klar überlegen. Wie viel ist von diesem Vorsprung übrig geblieben?

Jürgen Wagner: Sie sind eindeutig von der Leistungsfähigkeit des vergangenen Jahres entfernt, von ihrer damaligen überragenden Spiel- und Wettkampfperformance. Bei so vielen Trainingsunterbrechungen und Verletzungspausen kann das keine Überraschung sein. Körperlich sind beide fit, Laura derzeit etwas fitter als Kira nach ihrer Krankheit in den letzten Wochen, aber noch nicht auf dem Level von 2016. Die Frage ist nun, wie viel kann man mental korrigieren? Da traue ich beiden einiges zu. Der Olympiasieg sollte genug Selbstvertrauen hinterlassen haben, eben jene Gewissheit, jeden schlagen zu können, nicht nur weil man das Potenzial dazu hat, sondern weil beide genau dies schon geschafft haben.

Wie würden Sie die Entwicklung der beiden in den letzten zehn Monaten beschreiben?

Jürgen Wagner: Beide sind reifer, erfahrener, abgeklärter geworden, sie sind als Team noch stärker zusammengewachsen. Insbesondere Kira hat in ihrer Persönlichkeitsentwicklung noch einmal einen riesen Schritt gemacht.

Die Weltspitze ist im Umbruch. Einige Spielerinnen haben nach Rio aufgehört, andere sich neue Partnerinnen gesucht. Ist die Konkurrenz schwächer geworden?

Jürgen Wagner: Nein, aber breiter. Spielten in Rio fünf Teams um Medaillen, sind es jetzt zehn. Die aktuellen brasilianischen Weltranglistenersten Larissa/Talita sind zusammengeblieben, spielen eine starke Saison. Auch Chantal Laboureur/Julia Sude haben mit ihrem Sieg in Gstaad (Schweiz) gezeigt, warum sie momentan die Nummer zwei der Welt sind.

Laboureur/Sude haben Ludwig/Walkenhorst Anfang Mai in Münster mit links geschlagen, als Laura Ludwig ihrem rechten Arm noch nicht voll vertrauen konnte.

Jürgen Wagner: Das sage ich ja: Der Kopf spielt eine große Rolle. Bei der WM noch mehr als anderswo. Das ist unsere Chance.

Als Sie Ende des Jahres 2012 die ersten Gespräche mit Ludwig/Walkenhorst über eine mögliche Zusammenarbeit führten, sollen Sie Ihren eigenen Wort nach „einen Berg von Anforderungen“ aufgetürmt und nicht damit gerechnet haben, dass Sie als Trainer infrage kämen. Was hatten Sie erwartet?

Jürgen Wagner: Dass Kira als junge, ehrgeizige, hoch talentierte Spielerin mit ihrer brutalen Willensstärke bereit war, vieles auf sich zu nehmen, überraschte mich nicht. Laura dagegen war schon damals eine der besten Beachvolleyballerinnen der Welt, Europameisterin, Olympiafünfte mit Sara Goller. Sie würde sich zu Recht fragen, wozu dieser Riesenaufwand, warum soll ich plötzlich alles auf den Prüfstand stellen, was mich stark gemacht hat. Ich dachte, zu meinem Programm kann sie nicht Ja sagen. Laura war aber schnell bereit, diesen mühsamen Weg zu beschreiten, neue Techniken zu lernen, das Krafttraining umzustellen, und das alles mit einer bewundernswerten Konsequenz und meistens mit guter Laune, obwohl es ihr nicht immer leichtgefallen sein mag, noch einmal in die „Beachvolleyball-Grundschule“ zu gehen. Eine Sportlerin mit dieser Einstellung finden Sie nicht alle Tage. Solche Charaktere werden Olympiasieger.

Wie viel von dem „Berg“ ist abgetragen?

Jürgen Wagner: 80, 90 Prozent. Es gibt weiter Punkte, an denen können wir feilen, da können wir uns weiterentwickeln. Es gibt noch technische Optimierungen, wenige taktische, da sind beide bereits sehr weit. Wir haben sehr viel abgearbeitet. Es waren schließlich vier gnadenlose Jahre für die Mädels. Sie haben beide über ihre Grenzen geschuftet.

Ihre Arbeit als Trainer ist abgesehen von den Verletzungen im Jahr nach dem Olympiasieg nicht leichter geworden. Wie gehen Sie damit um, dass oft PR-Termine statt Übungseinheiten auf dem Plan stehen?

Jürgen Wagner: Die müssen sein, gerade wenn man eine Sportart wie Beachvolleyball in die breite Öffentlichkeit tragen will. Doch es bleibt dabei: Training first. Stünden in der Woche fünf PR-Termine an, wüsste ich, dass sie nicht vernünftig trainieren können. Bisher haben wir das ordentlich hinbekommen. Ich wäre auch längst nicht mehr ihr Trainer, hätte ich den Eindruck, das Sportliche käme zu kurz. Letztlich können Sie nur guten Gewissens in die Öffentlichkeit gehen, wenn der Erfolg stimmt. Das ist die Basis.

Wie viele Kompromisse mussten Sie machen?

Jürgen Wagner: Laura und Kira teilen meine Auffassung, ihr Management, Klaus Kärcher und Andreas Scheuerpflug, auch.

Wo ziehen Sie die rote Linie?

Jürgen Wagner: Wenn beide auf Dauer nur zwischen Platz fünf und zehn mitspielten – was jetzt aufgrund der körperlichen Einschränkungen ein Erfolg wäre –, wären meine Qualitäten nicht mehr gefragt.

Dann ziehen Sie weiter?

Jürgen Wagner: Nach Laura und Kira kommt nichts mehr, dann ist Schluss.

Das Projekt Sommerspiele 2020 in Tokio werden Sie noch gemeinsam durchziehen?

Jürgen Wagner: Wir haben diesen Vierjahresplan gefasst, das heißt nicht, dass wir zwischendurch nicht zu anderen Erkenntnissen kommen könnten. Vielleicht haben die beiden in der Zwischenzeit andere persönliche Ziele, vielleicht stellen sie fest, dass ich doch der falsche Trainer bin. Was ich sagen kann: Ich möchte mit diesem Team weiterabreiten, unserer Co-Trainerin Helke Claasen, unserer Psychologin Anett Szigeti, unseren Ärzten und Physiotherapeuten, alles hervorragende Leute, die Großartiges leisten. Wir setzen uns aber nach jeder Saison zusammen, ziehen Bilanz, entscheiden dann, ob und wie wir weitermachen.

Das klingt sehr rational. Wo bleibt da der Spaß?

Jürgen Wagner: Wir haben alle großen Spaß. Sonst ist es gar nicht zu leisten, was beide bewerkstelligen. Das waren zuletzt nicht nur intensive, auch hoch emotionale Jahre. Das Schöne am Beachvolleyball ist für mich, dass ich mit zwei Menschen arbeite, die alles für den Erfolg geben. Bei einem Hallenteam mit zwölf Spielern sind meistens zwei, drei dabei, die sie durchschleppen müssen. Das nervt zuweilen.

Laura und Kira sind grundverschieden, die eine extrovertiert, die andere tendenziell introvertiert. Ist das ein Erfolgsmodell?

Jürgen Wagner: Weil zu viel Harmonie dem Erfolg abträglich ist, Konflikte nicht ausgetragen werden, unterschwellig schwelen? Das kann zu Problemen führen, ja. Ich nehme Laura und Kira allerdings nicht so gegensätzlich wahr, wie Sie sie beschreiben. Beim Beachvolleyball gibt es im Gegensatz zum Hallenvolleyball keine Indianer, da stehen zwei Häuptlinge auf dem Feld. Wenn die sich gegenseitig respektieren, ist dies das Erfolgsmodell.

Sie trainieren bevorzugt individuell, wie finden die beiden am Ende zueinander?

Jürgen Wagner: Meine Überzeugung ist es, dass ich im „Einzeltraining“ intensiver, zielgerichteter arbeiten kann, weil ich meine Aufmerksamkeit nicht teilen muss. Alles, was ein Team braucht, kann ich individuell vermitteln, auch Teamfähigkeit. Das Zusammenführen kann daher warten. Wenn beide schließlich exzellent ausgebildet sind, sollte das Zusammenspiel später kein Problem sein. Eins plus eins ist dann größer als zwei. Getreu unserem Motto in Rio: „ 1 + 1 = 3!“