Hamburg. Radprofi Nikias Arndt fährt zum ersten Mal die Tour de France, die Sonnabend in Düsseldorf gestartet wird.

Manchmal, wenn sich die Vorfreude auf die kommenden drei Wochen Bahn bricht, beschleicht ihn ein Gedanke, der Nikias Arndt wohlig erschaudern lässt. „Vielleicht sitzen bald irgendwo in Deutschland Kinder vor dem Fernseher, die mich sehen und mit mir fiebern. Das gibt mir das Gefühl, dass sich all die Mühen wirklich gelohnt haben“, sagt der 25-Jährige. Die Bilder, wie er 2005 im Sportinternat in Cottbus Jan Ullrich im letzten Tour-de-France-Duell mit Lance Armstrong aus der Ferne die Daumen drückte, hat Nikias Arndt tief in seinem Gedächtnis gespeichert. Sie werden wahrscheinlich als Dauerschleife laufen, wenn er an diesem Sonnabend in Düsseldorf zum ersten Mal selbst beim größten und wichtigsten Radrennen der Welt an den Start rollt.

Das Unternehmen Tour de France, auf das der Profirennfahrer aus Buchholz in der Nordheide sein halbes Leben lang hingearbeitet hat, beginnt an diesem Mittwoch, wenn sich die Teams zur Präsentation und zu Medien- und Sponsorenterminen in der Landeshauptstadt Nordrhein-Westfalens treffen. Arndts Anfahrtsweg ist kurz, seit einem Jahr lebt er in Köln. Umso länger war die Strecke, die er zurücklegen musste, um sich seinen sportlichen Lebenstraum erfüllen zu können. „Ich fahre seit fünf Jahren auf einem ähnlichen Level“, sagt er, „aber erst jetzt bin ich dort angekommen, wo ich hinwollte. Entsprechend surreal kommt es mir nun vor.“

Sprintstarker Allrounder

Tatsächlich ist der sprintstarke Allrounder bereits ein Klassiker-erprobter Fahrer. Dreimal startete er bei der Vuelta in Spanien, zweimal beim Giro d’Italia, wo ihm im vergangenen Jahr sogar auf dem Schlussteilstück ein Etappensieg gelang. Aber erst in diesem Jahr haben ihn die Leiter des Sunweb-Teams, das als Nachfolger der Equipe Giant-Alpecin unter deutscher Lizenz und niederländischer Führung antritt, für reif befunden, sich bei der Mutter aller Radrennen zu beweisen.

Arndt ist neben Simon Geschke (31/Berlin) als Einziger der sechs deutschen Sunweb-Profis für die Tour nominiert. Seine Rolle ist eindeutig definiert: Er soll für den Australier Michael Matthews (26) die Sprints anziehen, um diesem zu Etappensiegen und dem Grünen Trikot des besten Sprinters zu verhelfen. „Michael ist unser Siegfahrer, ich werde ihn bedingungslos unterstützen“, sagt Arndt.

Hoffnungen auf Überraschungserfolg

Dennoch hegt auch er selbst zarte Hoffnungen auf einen Überraschungserfolg. Der Giro-Etappensieg 2016 steht zwar in seiner Erfolgsbilanz sehr weit oben, aber weil er nur durch die Disqualifikation des Italieners Giacomo Nizzolo zustande kam, fehlt ihm bis heute die emotionale Note. „Dieser Moment, wenn man im Gefühl des Sieges beim Überfahren der Ziellinie die Arme hochreißt, der hat mir gefehlt. Ihn bei der Tour nachholen zu können, das wäre die Erfüllung eines Traumes“, sagt Arndt, der maximal einmal pro Quartal in seine Heimat Buchholz zurückkehrt, wo der Großteil seiner Familie noch immer lebt.

Natürlich weiß er, dass die Wahrscheinlichkeit, das zu erleben, niedrig ist. Anders als bei sportlich ebenso hochwertigen Rennen wie dem Giro sind bei der Tour alle Fahrer in Topform. „Beim Giro oder anderen Rennen sind immer 30 Leute dabei, die dort nur zur Vorbereitung auf die Tour starten. Jetzt müssen alle voll da sein und die Karten auf den Tisch legen. Deshalb bin ich maximal gespannt darauf, mich mit den Besten zu messen“, sagt er.

Er sieht sich gerüstet

Ausreichend gerüstet sieht er sich. Der Sieg beim Eintagesrennen „Cadel Evans Great Ocean Race“ Ende Januar in Australien, den Arndt als größten Erfolg seiner Karriere einstuft, sei der perfekte Jahreseinstieg gewesen. Als Tour-Vorbereitung ist er Mitte Juni die Tour de Suisse gefahren, ein dank seiner anspruchsvollen Bergprofile sehr angesehenes Etappenrennen über neun Tage, das er auf Rang 62 als zweitbester Deutscher acht Plätze hinter Paul Martens (Rostock/Team Lotto-NL Jumbo) abschloss.

Arndt ist Realist genug, um zu wissen, dass Marcel Kittel (Arnstadt/Team Quick Step Floors) und André Greipel (Rostock/Team Lotto Soudal) die deutschen Favoriten auf Etappensiege sind. In der Gesamtwertung rechnet er dem Ravensburger Emanuel Buchmann (Team bora-hansgrohe) Chancen zu, vorn sieht er aber den britischen Superstar Chris Froome (Team Sky). Er selbst will vor allem versuchen, seine Premiere zu genießen.

Leidenschaft wachse langsam wieder

Kein Wunder also, dass er sich besonders auf die ersten Etappen freut, das Zeitfahren in Düsseldorf zum Auftakt am Sonnabend und das zweite Teilstück am Sonntag, das in Düsseldorf startet und ins belgische Lüttich führt. Anders als noch vor zwei Jahren, als sich die Atmosphäre bei einheimischen Rennen deutlich negativ von der in den Benelux-Staaten, Frankreich, Italien oder Spanien abhob, hat Arndt mittlerweile eine Aufbruchstimmung rund um seinen Sport festgestellt.

Die durch die Dopingskandale arg abgekühlte Leidenschaft wachse langsam wieder, „auch weil die Protagonisten von heute sich deutlich von Doping distanzieren und das glaubwürdig vertreten. Wir werden wieder mehr respektiert und angefeuert“, sagt Nikias Arndt. Zeit für neue Helden also, und er wäre gern einer davon.