Hamburg. Soziologe Markus Friederici und Unternehmensberater Olaf Kortmann über Vereinstreue, Emotionen und das Verhalten in der Masse.

Olaf Kortmann, Unternehmensberater, Personalentwickler, Mentaltrainer, und der Soziologe Dr. Markus Friederici sind nicht nur Volleyballer. Kortmann war Männer-Bundestrainer, später Entdecker der Beachvolleyball-Olympiasiegerin Laura Ludwig. Beide verbindet auch die Leidenschaft für Fußball. Gemeinsam schauen sie sich regelmäßig die Bundesligaspiele im Fernsehen an. Auf den Fußball haben Kortmann und Friederici auch eine professionelle Sicht, speziell auf die Fankultur. Ihre These: Egal, was passiert, Fußballfan bleibst du ein Leben lang.

Herr Dr. Friederici, Herr Kortmann, wie ist es zu erklären, dass all die jüngsten Skandale – Korruption, Vorteilsnahme, exorbitante Gehälter selbst für Durchschnittsspieler, mutmaßlicher Steuerbetrug – die Liebe der Fans zum Fußball nicht erkalten lassen?

Markus Friederici: Das ist erst einmal eine Hypothese, dass diese Entwicklungen keine Folgen hätten. Skandale hatten in der Vergangenheit durchaus Konsequenzen. Ich erinnere an den Bundesligaskandal 1970/71, als in der Saison danach die Zuschauerzahlen in der Bundesliga drastisch gesunken sind.

Das war eine andere Dimension. Spielergebnisse sind manipuliert, die Fans betrogen worden.

Friederici: Das war ein Aspekt, der zu Konsequenzen führte. Jetzt fühlt sich die große Masse der Fans offenbar nicht betrogen. Sie glaubt, diese Entwicklungen sind Teil des Geschäfts. Deshalb empfindet sie diese Vorgänge nicht als amoralisch. Da haben sich auch Werte, genauer gesagt deren Gewichtung, und Grenzen verschoben. Es gilt auch zu klären: Sind die Zuschauer Fans eines Spielers, dessen Geschäftsgebaren sie nicht gutheißen, oder Fans eines Vereins. Nehmen Sie den HSV: Da sind zuletzt irrationale, unerklärliche Dinge passiert. Die Fans sagen aber: Wir tragen die Raute weiter im Herzen. Sie haben diese Bindungsemotion an den Verein, an das Stadion, nicht aber an die Spieler. Die müssen sich die Zuneigung erst verdienen.

Nach dem Fanmotto: „Wir sind Hamburger und ihr nicht.“ Oder: „Wir haben euch was mitgebracht: Hass! Hass! Hass!“

Friederici: Diese Bindung ist nicht nur zum Verein oder zu den Spielern entstanden, es ist auch das Bekenntnis zur eigenen Biografie; als ich mit dem Vater das erste Mal zum HSV, zum FC St. Pauli oder zu Altona 93 mitgegangen bin. Ein Grund, warum man weiter dort hingeht, ist dann, weil es ein Teil von mir selbst ist.

In Deutschland wird etwa die Hälfte aller Ehen geschieden. Die Liebe zum Verein scheint ein Leben lang zu halten.

Friederici: Es fehlt die Alternative. Wenn Ehen in die Brüche gehen, gibt es Gründe, danach andere Möglichkeiten, sich zu binden. Einen Verein kannst du nicht einfach verlassen. Der Mensch, Homo ludens und Hedonist, ist auf der Suche nach Abwechslung und Spaß. Beides genießt er bei seinem Club. Ein anderes Umfeld, das ihm Ähnliches bietet, findet er nicht so leicht.

Olaf Kortmann: Das Phänomen erklärt sich für mich in der Konsequenzlosigkeit des Auslebens von Gefühlen in einem definierten kurzen Zeitraum. Im Gegensatz zu allen anderen Beziehungen, die Menschen haben, kann im Fußball Emotionalität exzessiv ausgelebt werden, ohne dass es private Konsequenzen hat, sich dein Partner nachher von dir abwendet. Du kannst allen Frust rausschreien, Spieler beleidigen, Schiedsrichter beschimpfen, den Mittelfinger zeigen, niemand nimmt es dir hinterher übel. Letztlich ist der Besuch eines Fußballspiels ein Ventil ohne Konsequenzen. Unter den Leuten, die zum Fußball gehen, und die kommen heute aus allen gesellschaftlichen Schichten, brauchen viele, vielleicht sogar die meisten, aufgrund fehlender eigener Identität ihren Club. Daher ist es ihnen auch egal, was da passiert, Siege oder Niederlagen, Hauptsache, ich kann mich identifizieren, kriege etwas ab von Glanz und Gloria.

Das klingt, als könnten Millionen Menschen nichts mit ihrem Leben anfangen.

Kortmann: Ich will diese Identitätsstiftung, die sich aus vielen positiven wie auch negativen Erlebnissen mit dem Verein entwickelt hat, nicht nur negativ bewerten. Fußball ist bei diesen Menschen Teil ihres Lebens geworden, sie sind alle infiziert von einem Virus, wollen Teil sein von diesem glorifizierten Etwas. Fankultur ist nichts anderes als: Ich will Mitglied dieser Bewegung sein, ein kleiner Schein des großen Glanzes möge auch auf mich fallen.

Friederici: Die Liebe der Fans ist auch ein Prozess. Da hängen viele biografische Emotionen an dieser innigen Beziehung zum Fußball und zum Verein.

Weshalb eine Abkehr schwerfällt, sie fast unmöglich macht?

Friederici: Das wäre ein Bruch mit der eigenen Biografie, das Eingeständnis, Lebenszeit, Geld verschenkt zu haben, für einen Verein, der die Zuneigung nicht verdient. Solch ein Bruch würde ein tiefes Loch reißen, das man vielleicht nie wieder füllen kann. Ein Verein ist ein bisschen wie Familie, die Nähe zu ihm ist sozialisiert. Wenn du von einem Familienmitglied enttäuscht wirst, lässt du es ja auch nicht gleich fallen, du suchst Erklärungen, bringst Verständnis auf. Ähnliches geschieht derzeit in den Fußballblogs. Viele finden es abstoßend, wie sich die Stars verhalten. Steuermoral, Club-Hopping, Vertragsbrüche. Das widert alle an. Aber die meisten entschuldigen anschließend dieses Verhalten, verzeihen es sogar. Im Zeitalter von Gier und fehlender Moralität sei es eben schwierig, anständig zu bleiben. An sich zuerst denken doch alle: Wirtschaftsbosse, Politiker, einfach jeder.

Die Fußballprofis müssen ihre Fans also nicht fürchten?

Friederici: Die Vereine haben ein feines Gespür entwickelt, wann Grenzen des Zumutbaren drohen, überschritten zu werden und reagieren darauf. Ein Beispiel: Als die üppigen Gehaltszahlungen des HSV an Lewis Holtby öffentlich wurden, hat Holtby eine Woche danach auf Facebook ein Gewinnspiel für seine Fans veranstaltet. Das macht ihn gleich wieder sympathischer. Oder war es doch nur symbolischer Aktionismus?

Ist es nicht erstaunlich, dass bei den Millionengehältern der Fußballprofis offenbar wenig Neid aufkommt, obwohl diese oft das Hundertfache derer verdienen, die sie als (Fernseh-)Zuschauer bezahlen?

Kortmann: Ich erinnere noch die 60er- und frühen 70er-Jahre, als vor allem Arbeiter ins Volksparkstadion gingen. Da kamen um die 30.000 Zuschauer. Es war ziemlich ruhig, ab zu wurde geklatscht. Irgendwann wurde aus klar beschreibbaren Gründen, um größere gesellschaftliche Zielgruppen zu finden, Kinder, Frauen, Familien, Beamte, Besserverdiener, die Ökonomisierung des Fußballs gestartet. Aus Zuschauern wurden Fans, sie wurden mehr und mehr in die Abläufe integriert. Fangruppen entwickeln heute ihre Choreografien, sie sind jetzt Gestalter, nicht mehr nur Konsumenten, damit selbst Teil des durchkommerzialisierten Fußballbetriebes. Was ihnen auch gefährliche Macht verleiht, auf die die Vereine Rücksicht nehmen (müssen) – und dann zum Beispiel auf Druck der Fans den Trainer entlassen. Parallel dazu wurden immer mehr Schals, Kappen, Trikots, immer mehr Sky-Abos verkauft. Der Fußball ist zu einer Maschinerie des Kapitalismus geworden, der immer mehr Menschen an sich binden muss, um finanziell überleben zu können. Er trägt aber auch in seiner überdimensionierten Darstellung der Medien maßgeblich zur Verdummung der Gesellschaft bei, da er von wichtigen gesellschaftlichen Realitäten ablenkt.

Warum aber ist der Fußballfan seinem Verein über Jahrzehnte treu und wechselt seine Sympathien nicht?

Friederici: Ich weise da noch mal auf das Biografische hin. Das verhindert, dass man als Fan des HSV zum FC St. Pauli wechselt oder andersherum. Diese Bindung ist stark emotional eingefärbt. Die Leute, die zum HSV gehen, wollen nicht nur das Spiel sehen. Sie wollen ihre Leute treffen, ihre Wurst essen, ihr Holsten trinken. Denen wird das Astra bei St. Pauli nicht schmecken oder die Wurst, selbst wenn sie vom selben Schlachter kommt.

Kortmann: Im Prinzip geht es um Identifikation, Gemeinschaft, Suche nach Gleichheit und Nähe, die Ligazugehörigkeit ist dabei nebensächlich. Eigentlich ist Fußball bedeutungslos. 22 Spieler jagen einem Ball hinterher, darin liegt kein tieferer Sinn oder gesellschaftlicher Nutzen. Fußball erhält jedoch eine Bedeutung in den Köpfen vieler Leute, weil sie, wie gesagt, ohne Konsequenzen ihre Emotionen, ihren Frust, aber auch ihre Freude ausleben können – und das alles mit Gleichgesinnten. Das ist die große Macht des Fußballs.

Friederici: In der Soziologie sagt man: In der Masse entsteht ein hyperorganisches Wesen, das mehr ist als die Summe der Teile. Jeder Einzelne für sich würde den Schiedsrichter nicht anpöbeln, aber die Dynamik in dieser Gruppe lässt etwas entstehen, das alle mitreißt. Das sind im Positiven wie im Negativen sehr wirkmächtige Emotionen, die wir auch aus anderen Zusammenhängen kennen. Da werden Dinge ausgelöst, die im Arbeitsalltag oder in anderen Rollen, in denen man sich befindet, nicht ausgelebt werden können.

Was sagt das über unsere Gesellschaft aus, dass wir so viel Frust aufstauen, dass wir ihn auf diese Weise ausleben müssen?

Kortmann: Das ist ein archaisches Mus-ter. Schon im alten Rom, Stichwort Brot und Spiele, gab es für die Massen Gladiatorenkämpfe.

Friederici: Jeder Mensch braucht eine Ventilsitte, um sich abreagieren zu können. Der Amerikaner geht zum Sport wegen des Sports. Obwohl die Profiligen ebenfalls Massenveranstaltungen sind, gibt es dort keine Ausschreitungen oder Fankrawalle. In den USA trifft man sich vielleicht abends mit irgendwelchen Gangs, um seine Aggressionen abzubauen. In Deutschland ist das kulturell gewachsen, dass du zum Sport gehst, gerade zum Fußball als Arbeitersport, der historisch immer ein Forum geboten hat, um Emotionen auszuleben. Früher gab es Hinterzimmer, Stammtische, heute hat das Stadion diese Funktion fast vollständig übernommen.

Welche Rolle spielen Erfolg und Misserfolg bei der Vereinsbindung?

Kortmann: Es geht nicht darum, ob der Verein gut oder schlecht spielt. Das ist vordergründig. Es geht darum, dabei zu sein. Ob ich nun jubele oder weine, der Besuch eines Fußballspiels erfüllt eine soziale, psychohygienische Funktion, unabhängig vom Ausgang des Spiels.

Friederici: Nicht nur der Erfolg schweißt zusammen, gerade auch die gemeinsame Leidenszeit. Geteiltes Leid ist nun mal gefühlt halbes Leid. Das hat nicht zwangsläufig zur Folge, dass die Bindung zum Verein abnimmt.

Mangelt es an gesellschaftlichen Alternativen zum Fußball?

Friederici: Nein. Nur der Zugang zum Fußball ist denkbar einfach. Man weiß ziemlich genau, was einen dort erwartet. Man kann mitreden, schlüpft plötzlich in die Rolle des Experten, verbreitet seine Ansichten, andere Leute hören einem zu, anders vielleicht als im Alltag. Man findet alle Rahmenbedingungen vor, um sich selbst zu verwirklichen.

Der Kampf gegen seine eigene Bedeutungslosigkeit findet also nicht nur bei Facebook oder Twitter statt, sondern vor allem im Fußballstadion?

Kortmann: Dort vor allem, aber nicht nur dort. Fußball ist dank gigantischer Marketingmaßnahmen in allen gesellschaftlichen Schichten angekommen. Um heute am Arbeitsplatz mitreden zu können, musst du wissen, was am Wochenende in der Bundesliga passiert ist.

Kann sich der Fußball alles erlauben, oder kann die kommerzielle Schraube irgendwann überdreht werden?

Friederici: Wie Olaf Kortmann schon gesagt hat, es ist ja alles komplett durchökonomisiert. Was soll da noch kommen, was nicht schon passiert ist? Noch höhere Gehälter, noch höhere Ablösesummen, noch mehr Korruption, noch mehr Absprachen? Wenn wirklich mal ein Imageschaden droht, geht ein Profi eben nach dem Spiel zu einem Jungen im Rollstuhl, gibt ihm unter Blitzlichtgewitter sein Trikot. In diesem Moment wird schnell vergessen, dass er seine Einnahmen über Steueroasen in der Karibik verschieben lässt. Ist ja eigentlich ein guter Junge.