Hamburg. Susi Kentikian kam als Flüchtlingskind, wäre beinahe abgeschoben worden, arbeitete als Putzfrau – und wurde 2007 Box-Weltmeisterin.

Den regelmäßigen Blick auf ihr Mobiltelefon muss man Susi Kentikian verzeihen. Ihre Mutter ist gerade frisch operiert worden, und für jemanden wie die Hamburger Profiboxerin, die ihre Familie hütet wie ihren wichtigsten Schatz, ist das eine Ausnahmesituation. Dass die 29-Jährige sich dennoch voll einlassen kann auf das Gespräch im Restaurant „Parlament“ unterm Rathaus, liegt am Thema, das ihr angesichts der eigenen Erfahrungen als Flüchtlingskind am Herzen liegt wie kaum etwas anderes. „Wenn ich heute auf unsere Erfahrungen zurückblicke, dann kann ich sagen, dass wir richtige Glückspilze sind“, sagt die gebürtige Armenierin. Eine Aussage, die man im Verlauf des Gesprächs mehrmals anzweifeln möchte – und die doch anschaulich dokumentiert, mit welch unerschütterlichem Optimismus die 152 Zentimeter kleine Athletin über das Leben denkt.

Frau Kentikian, Sie waren zwölfeinhalb Jahre alt, als Sie mit Ihrem Vater und Ihrem älteren Bruder auf dem Flughafen Fuhlsbüttel im Abschieberaum saßen und befürchten mussten, Deutschland verlassen zu müssen. Was macht so eine Erfahrung mit einem jungen Mädchen?

Susi Kentikian: In dem Moment fühlte ich mich hilflos, fassungslos und schlicht ungewollt. Ich war damals schon Hamburger Meisterin im Boxen, bin hier zur Schule gegangen und konnte nicht verstehen, warum man uns loswerden wollte. Wir wussten nicht, was wir falsch gemacht hatten und warum man uns als Verbrecher angesehen hat. Ich habe den Beamten, die uns abholten, sogar meine Pokale gezeigt und sie angefleht, uns nicht auszuweisen. Aber die konnten ja auch nichts dafür, sie hatten Befehle und mussten die ausführen.

Erinnern Sie sich an den Moment, in dem Sie abgeholt wurden?

Kentikian: Natürlich. Ich war die Einzige, die noch reden konnte. Mein Vater und mein Bruder waren starr vor Schreck. Das Schlimmste war, dass meine Mutter nicht bei uns war, weil sie im Krankenhaus lag. Man sagte uns, Mama würde mit einer Ärztin nachreisen, aber das glaubten wir natürlich nicht. Papa flüsterte mir zu, ich solle abhauen und Mama holen, aber ich hätte es nicht gekonnt, meine Füße waren wie aus Beton. Zum Glück erlaubte man mir zu telefonieren, und das war unsere Rettung. So konnte ich Kontakt zu meinem Trainer Frank Rieth und unserem damaligen Anwalt aufnehmen, und die haben dann ja erwirkt, dass wir Aufschub bekamen.

Was fühlt man in einem solchen Moment?

Kentikian: Erleichterung. Pures Glück. Mir liefen die Freudentränen übers Gesicht. Es war wie ein Wunder.

War das der Moment, in dem Sie das Gefühl hatten, in Hamburg angekommen zu sein?

Kentikian: Nein, angekommen war ich erst, als ich 2008 meinen deutschen Pass bekommen habe. In dem Moment wusste ich: Das ist jetzt mein Zuhause, ich kann nicht mehr weggeschickt werden. Meine Familie hat übrigens erst vor Kurzem die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten.

Fühlen Sie sich seitdem als Deutsche, oder kam das schon früher oder erst viel später?

Kentikian: Seitdem fühle ich mich deutsch. Ich werde immer ein Herz für Armenien haben, dort liegen meine Wurzeln, und ich habe das Temperament. Aber ich denke, spreche und fühle deutsch. Ich kann mir nicht vorstellen, jemals wieder woanders zu leben als in Hamburg, und ich bin sehr dankbar dafür, dass uns dieses Land letztlich so gut aufgenommen hat. Es ist für mich eine Anerkennung für das, was wir geleistet haben in unserem Leben.

Von der Abschiebung bedroht zu sein, das kann Menschen bitter und misstrauisch machen. Sie jedoch haben niemals und bis heute nicht Ihr Vertrauen verloren, glauben immer an das Gute im Menschen, auch wenn Sie schon oft enttäuscht oder ausgenutzt wurden. Warum ist das so?

Kentikian: Weil das mein Wesen ist. Ich glaube fest daran, dass man zurückbekommt, was man gibt. Ich bin zwar vorsichtiger geworden und lasse mich nicht mehr benutzen. Aber ich bin überzeugt davon, dass in jedem Menschen ein guter Kern steckt. Mein Leben hat mich aber auch gelehrt, immer zu kämpfen. Dass es keine Rolle spielt, wie oft man scheitert und hinfällt, sofern man immer wieder aufsteht. Irgendwann wird man belohnt. Das habe ich dank Menschen wie Frank Rieth ja auch mehrfach erleben dürfen.

Hatten Sie dieses kämpferische Element schon immer in sich, oder haben Sie das erst im Boxen gelernt?

Kentikian: Nein, das hatte ich schon immer. Diese Kämpferseite in mir, die war schon in früher Kindheit da. Ich hatte großen Bewegungsdrang, deshalb hat Papa ja auch einen guten Teil unserer Sozialhilfe investiert, damit ich Sport machen konnte. Allerdings hat das Leben als Flüchtling mein Kämpferherz noch stärker gemacht. Einmal sind wir im Wohnheim in Langenhorn ausgeraubt worden, uns wurde das Wenige, was wir hatten, gestohlen. Da habe ich unter Tränen gesagt, dass ich alles zurückholen würde. Und das habe ich dann ja auch geschafft.

Sie waren vier Jahre alt, als Sie mit Ihrer Familie aus Armenien kamen. Wieso mussten Sie die Heimat verlassen?

Kentikian: Damals herrschte in Armenien Krieg mit dem Nachbarland Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach. Uns ging es in der Hauptstadt Eriwan gut, wir hatten eine schöne Wohnung. Aber die Armee wollte Papa in den Krieg schicken, und da hat er entschieden, dass es besser wäre zu fliehen.

Sie kamen in ein fremdes Land mit einer anderen Kultur und einer unverständlichen Sprache. Was sind Ihre ersten Erinnerungen, die Sie an diese Zeit haben?

Kentikian: Der Sprachkursus in der Vorschule. Ich wollte ganz schnell Deutsch lernen, um die anderen Kinder zu verstehen, mit denen ich spielte. Das war ganz wichtig, und innerhalb von zwei Jahren konnte ich es auch.

Anfangs schien es, als könne Ihre Familie in Hamburg bleiben. Die Probleme begannen, als Sie für einige Jahre nach Moldawien gegangen waren und dann zurückkehrten. Was war damals der Grund dafür?

Kentikian: Die schwere Erkrankung meiner Mutter, die manisch-depressiv ist. Mein Vater dachte, es hänge mit der Flucht zusammen und hoffte, es würde ihr in Moldawien besser gehen. Das war aber nicht der Fall, und als wir zurückkehrten, kamen wir plötzlich aus einem als sicher geltenden Land. Das machte es schwerer, anerkannt zu werden.

Sie zogen dann von Heim zu Heim, von Stadt zu Stadt, wohnten in Hamburg sogar auf einem Flüchtlingsschiff. Was war damals für Sie das Schlimmste?

Kentikian: Die Enge, und dass ich das Gefühl hatte, niemals zu Hause zu sein. Wir waren acht, neun Jahre lang immer woanders, stets auf der Flucht. Als kleines Mädchen spürt man das noch nicht so, aber als wir aus Moldawien zurückkamen, war ich elf, und da bekam ich natürlich mit, was für ein Druck das vor allem für Papa war.

Was gab Ihnen Halt?

Kentikian: Mein Bruder. Wir haben uns gegenseitig Halt gegeben, weil auch Papa psychisch sehr belastet war. Besonders schlimm war natürlich, dass Mama so viele Jahre nicht bei uns war, sondern im Krankenhaus. Irgendwann wollte man sie in ein Heim stecken, da haben wir entschieden, dass wir sie zu Hause pflegen, was alles noch härter machte. Es hat ewig gedauert, bis die Ärzte das Medikament fanden, das ihr half, und das sie bis an ihr Lebensende einnehmen muss. Aber wir sind so glücklich, dass sie es gefunden haben und wir als Familie zusammen­leben können.

Sie mussten schon sehr früh helfen, Geld für den Unterhalt der Familie zu verdienen, haben als Putzhilfe gearbeitet. Haben Sie sich manchmal Ihrer Jugend beraubt gefühlt?

Kentikian: Nein, denn ich liebe meine Familie und würde immer alles dafür tun, dass es ihr gut geht. Allerdings wundere ich mich, wenn ich heute darauf zurückblicke, schon darüber, wo ich die Kraft hergenommen habe. Mein Tag sah so aus, dass ich nach der Schule bei Mama im Krankenhaus war, dann zum Training gegangen bin und abends mehrere Stunden geputzt habe. Und das fast jeden Tag. Ich bin sicher: Ohne das Boxen hätte ich das nicht durchgehalten.

Ihr Bruder Mikael hatte Sie zum Training mitgenommen. Frank Rieth, Ihr Entdecker, erkannte schnell Ihr Talent. Wann wussten Sie, dass Boxen das ist, was Ihr Leben prägen würde?

Kentikian: Ziemlich bald. Boxen war wie eine Kur für mich. Beim Training konnte ich abschalten, all den Stress und die Sorgen des Alltags abstreifen. Ich weiß, dass aus mir auch ganz etwas anderes hätte werden können, dass ich auf die schiefe Bahn hätte geraten können so wie eine Reihe von Freunden aus der damaligen Zeit. Boxen war meine Droge, der Sport hat mich gerettet und mich auf dem richtigen Weg gehalten.

Sie sind mit 17 Profi geworden, haben keine Berufsausbildung. Aber Sie haben sich 2007 den Traum erfüllt, Weltmeisterin zu werden. War das der Moment, in dem Sie fühlten, angekommen zu sein im Leben?

Kentikian: Natürlich war das toll, weil ich das Gefühl hatte, als erfolgreiche Sportlerin anerkannt zu werden. Wenn mich die Menschen auf der Straße erkannt haben, war ich stolz und glücklich. Aber ich muss auch gestehen, dass ich damals zu jung war, um das alles richtig zu verarbeiten. Es ging so schnell, dass ich es gar nicht wirklich mitbekommen habe.

Sie haben 2011 Ihre Biografie veröffentlicht, danach schien Ihre Geschichte auserzählt, und Sie verschwanden Stück für Stück aus der Öffentlichkeit. Haben Sie bisweilen das Gefühl, den schönsten Teil Ihres Lebens schon hinter sich zu haben?

Kentikian: Das weiß ich nicht. Eigentlich denke ich, dass es immer noch besser kommen kann, wenn man sich bemüht. Aber ich weiß auch, dass ich dankbar sein muss für das, was ich geschafft habe. Wenn ich zurückschaue, kann ich manchmal selbst nicht glauben, was ich alles erlebt habe. Heute würde ich sicherlich einige Sachen anders machen, viel mehr auskosten. Ich habe das Gefühl, noch immer auf der Suche zu sein. Ich bin noch nicht da angekommen, wo ich sein will. Ich habe so viel Energie in mir, da ist noch so viel Potenzial, das ich zeigen will. Ich will noch viel ausprobieren.

Ein Betätigungsfeld könnte doch die Inte­gration von Flüchtlingen sein. Wenn Sie heute die Ströme von Menschen sehen, die wie Sie damals in Deutschland ein neues Leben beginnen wollen, wie geht es Ihnen dann?

Kentikian: Ich nehme Anteil an den Schicksalen, weil ich selbst genau weiß, wie es ist, ein Flüchtling zu sein. Ich würde mich sehr gern mehr einbringen, was die Integration angeht, weil ich denke, dass ich mit meiner Erfahrung vielen helfen könnte.

Was würden Sie Flüchtlingen raten, um in Deutschland Fuß zu fassen?

Kentikian: Dass sie die Sprache lernen müssen, um sich zu integrieren. Dass sie Sport treiben müssen, anstatt sich zu langweilen. Und dass sie an ihre Chance glauben und hart dafür arbeiten müssen. Es gibt immer einen Ausweg, das habe ich gelernt.

Und was raten Sie Ihren Landsleuten im Umgang mit Flüchtlingen?

Kentikian: Den Deutschen rate ich nichts. Ich wünsche mir aber, dass nicht alle Flüchtlinge über einen Kamm geschoren werden und mehr Verständnis für die Schicksale der Menschen gezeigt wird. Es wäre schön, wenn sich mehr Menschen die Mühe machten, Flüchtlinge genauer unter die Lupe zu nehmen. Das würde vielen helfen, in Deutschland so anzukommen, wie es mir vergönnt war.


Nächste Folge: Schriftsteller Saša Stanišic