Hamburg. Vor sieben Jahren beging Hannovers Nationaltorwart Selbstmord. Florian Fromlowitz trat als Enke-Erbe einen schweren Job an.

Florian Fromlowitz krempelt den Ärmel seines schwarzen Pullis hoch, deutet auf seinen Unterarm. „Hier“, sagt er, „diese Gänsehaut kriege ich immer, wenn ich über Robert spreche.“ Der Bahnübergang in Eivelse bei Neustadt liegt 500 Kilometer entfernt vom Café Fegert in Kaiserslautern, wo wir an diesem trüben Herbsttag mit Fromlowitz verabredet sind. Und der 10. November 2009 liegt fast sieben Jahre zurück.

Und doch erinnert Fromlowitz jedes Detail. Den abendlichen Anruf seines Kollegen Bastian Schulz: „Flo, Robert hat sich das Leben genommen.“ Die Bilder vom Bahnübergang im TV. Das nächtliche Treffen mit der Mannschaft im Stadion, die Tränen in der Kabine.

Der Tag, als Robert Enke starb.

Fromlowitz hat in den Wochen danach oft über das Enke-Drama gesprochen, über dessen Suizid am Bahngleis. Fromlowitz war schließlich der Mann, der nach Enke kam – noch nie in der deutschen Fußballgeschichte war der Job der Nummer eins in der Bundesliga unter solch tragischen Umständen gewechselt. Bei seinen ersten Spielen als Enke-Erbe scannten Reporter jede Bewegung. „Wie schultert dieser junge Tormann nur die unmenschliche Last?“, fragte der „Stern“. Als der damals 23-Jährige im Mai 2010 im Bochumer Ruhrstadion minutenlang sein Gesicht in seine Torwart-Handschuhe presste, freute sich die Fußballnation. Mit Fromlowitz im Tor hatte Hannover 3:0 gesiegt, den Abstieg im letzten Saisonspiel noch abgewendet. In der zweiten Halbzeit, sagte er nach dem Abpfiff, sei der Himmel über dem Ruhrstadion aufgerissen: „Ich konnte mit Robert reden. Und ich war mir sicher, er schaute von oben zu.“

Florian Fromlowitz hatte nur ein Ziel: Profi werden

Sieben Jahre nach dem Enke-Drama nimmt niemand im Café Fegert Notiz von Florian Fromlowitz. Auch der ehemalige Lauterer Spieler Fritz Fuchs und der entlassene Lauterer Trainer Konrad Fünfstück, die zwei Tische weiter über die Lage beim 1. FC Kaiserslautern diskutieren, scheinen Fromlowitz zunächst nicht zu erkennen. „Wie geht es dir?“, fragen sie, als er sie schließlich kurz begrüßt. „Ganz okay“, antwortet der.

Was wurde aus dem Mann, der nach Enke kam? Die Fußballdatenbank dokumentiert einen unaufhaltsamen Abstieg: von Hannover über die Zweitligateams Duisburg und Dresden mit einem Zwischenstopp in Wehen-Wiesbaden (3. Liga) runter zum FC Homburg in die Regionalliga Südwest. Ganze 28 Ligaeinsätze in sechs Jahren, der letzte für Homburg liegt fast elf Monate zurück.

Um die Geschichte des Florian Fromlowitz zu verstehen, kann es keinen besseren Ort als Kaiserslautern geben, die Stadt im Pfälzer Wald mit knapp 100.000 Einwohnern. Hier, in der Heimat der Legende Fritz Walter, wurde Florian Fromlowitz am 2. Juli 1986 geboren. Er deutet auf das Burggymnasium, das er nach der elften Klasse abbrach. Er habe schon als Kind immer nur ein Ziel gehabt: Profi werden.

Im Sommer 2008 trifft er Robert Enke

Schon 2001 schafft er den Sprung in die Junioren-Nationalmannschaft. Und als sich im Februar 2006 beim Bundesligaspiel in Mainz Lauterns Torwart Jürgen Macho den Arm bricht, hält er den Sieg fest, wird Stammtorwart. Ein Kreuzbandriss befördert ihn 2007 ins Krankenhaus, danach auf die Ersatzbank. Im Sommer 2008 sucht Fromlowitz in Hannover den Neuanfang. Und trifft Robert Enke. Liebling der 96-Fans.

„Wir haben uns sofort gut verstanden, vielleicht weil wir so gegensätzlich waren“, sagt Fromlowitz. Hier Enke, ­introvertiert, leise, voller Trauer um den Tod seiner herzkranken kleinen Tochter. Dort Fromlowitz, emotional, Tattoo, Gel im Haar, Porsche-Fahrer, Becker-Faust nach gelungenen Paraden.

Um Enkes psychische Probleme wissen nur zwei Vertraute im Team, der Nationaltorwart will um keinen Preis, dass seine Depressionen öffentlich werden. Fromlowitz wundert sich zwar, dass sein Kollege öfter mal fehlt. Bakterielle Infektion, heißt es dann. Beiläufig sagt Enke am 31. Oktober 2009 vor einem Spiel in Köln zu Fromlowitz: „Flo, du wirst hier bald deine Spiele bekommen.“ Genau zehn Tage später wird Fromlowitz begreifen, dass Enke keineswegs auf einen Vereinswechsel anspielte. Am 10. November 2009.

„Wir waren in Schockstarre“

„Wir waren in Schockstarre“, erinnert Jörg Schmadtke, damals Manager bei 96, inzwischen in gleicher Funktion erfolgreich beim 1. FC Köln. Der Druck auf Fromlowitz, das Erbe eines Selbstmörders anzutreten, sei fast unmenschlich gewesen. „Er hat besonders viel Begleitung gebraucht“, sagt Schmadtke, der selbst einmal ein guter Torwart war. Fromlowitz sei immer ein „sehr sensibler Typ“ gewesen, die „extrovertierte Art“ nur Fassade. Aber ausgerechnet Fromlowitz gehörte zu den Spielern, die lange zögerten, den vom Verein engagierten Psychologen zu konsultieren: „Ich dachte, ich packe das allein.“

Inzwischen ist er sicher, dass er auch durch diese Gespräche nach dem Klassenerhalt 2009 die beste Halbserie seiner Karriere spielte. Mit einem Team, das im Winter 2010 überraschend Platz vier belegte.

Entsprechend positiv gestimmt steigt Fromlowitz am 15. Januar 2011 aus dem Mannschaftsbus mit dem großen 96-Wappen am Steigenberger-Airport-Hotel in Frankfurt, voller Vorfreude auf den Rückrundenauftakt am nächsten Tag bei der Eintracht. Als es später an der Tür klopft, denkt er, dass sein Zimmernachbar Jan Schlaudraff nur etwas vergessen hat. Stattdessen steht Mirko Slomka, sein Trainer, in der Zarge und sagt: „Flo, wir müssen reden.“

Das Muster bleibt: Seine Vereine kriseln

Zehn Minuten später besorgt sich Fromlowitz eine Zigarette, schließt die Klotür, raucht und ruft seine Frau an. „Schatz“, sagt er, „du wirst es nicht glauben. Ich darf morgen nicht spielen.“ Denn Slomka hat ihn informiert, dass in Frankfurt der drei Jahre jüngere Ron-Robert Zieler im Tor stehen wird. „Bauchgefühl“, hat Slomka gesagt. Er wolle was Neues probieren.

Fromlowitz kann nicht ahnen, dass er fortan nur noch dreimal ein Bundesligator hüten wird; im Frühjahr, als sich Zieler, die neue Nummer eins, verletzt. Er entscheidet sich für einen Wechsel nach Duisburg, Zweite Liga. „Rückblickend“, sagt er, „ein großer Fehler. Ich habe mich damals zu schnell entschieden, weil ich unbedingt spielen wollte.“

Es beginnen Fromlowitz‘ Wechseljahre. Nach Duisburg kommt Dresden, nach Dresden kommt Wiesbaden. Dritte Liga. Das Muster bleibt. Seine Vereine kriseln, die Trainer wechseln, Fromlowitz spielt nur noch selten, sitzt mitunter gar auf der Tribüne.

Während seiner Zeit in Duisburg erleidet seine Frau eine Fehlgeburt, sie überredet ihn, dass er dennoch spielen soll. Fromlowitz spricht mit niemandem über seine Trauer. Ausgerechnet an diesem Tag bedeutet ihm Duisburgs Trainer, dass er im kommenden Spiel nur Reservist sein wird. Das ist zu viel für Fromlowitz, der aus dem Stadion flieht und zu seiner Frau ins Krankenhaus fährt. Statt sich später zu erklären, zahlt Fromlowitz lieber 10.000 Euro Geldstrafe – und gilt fortan bei den Fans als arroganter Schnösel, der sich zu schade für die Bank sei.

In Dresden warnt ihn ein altgedienter Dynamospieler gleich in der ersten Woche, dass er im Konkurrenzkampf gegen Stammtorwart Benjamin Kirsten keine Chance habe. Dessen Papa Ulf sei eine Legende in Dresden, kein Trainer würde sich trauen, Kirsten junior aus dem Tor zu nehmen. Und in der Tat: Obwohl Kirsten schwächelt, bleibt er zwischen den Pfosten. Fromlowitz wird zeitweise in die zweite Mannschaft verbannt. Wehen Wiesbaden ist dann die letzte Profistation in seinem persönlichen Abstiegskampf, ein Engagement, das er dem Torwarttrainer des Vereins zu verdanken hat. Er hat 2014 kein anderes Angebot, ist heilfroh, dass er in der Nähe seiner Lauterer Heimat einen Job gefunden hat; das zweite Kind ist unterwegs Rückblickend sagt er: „In Wahrheit wollten die mich gar nicht.“

Ein Jahr später läuft sein Vertrag aus. Und Fromlowitz muss nun wirklich zum Arbeitsamt, „keine schlimme Erfahrung“, wie er sagt. Aber natürlich kann ihm auch die freundliche Sachbearbeiterin im Arbeitsamt in Landstuhl, 15 Kilometer östlich von Kaiserslautern, keinen Job in einem Profitor vermitteln. Er hält sich im benachbarten Pirmasens fit, einem traditionsreichen Regionalliga-Club, und hat nach Jahren der Tristesse, der Niederschläge und Niederlagen wieder Spaß an seinem Beruf. Mit Spielern, die ihn respektieren, sogar zu ihm aufschauen.

Nur ein paar Kilometer weiter, beim FC Homburg, ergibt sich ein paar Wochen später die Chance auf eine feste Anstellung. Regionalliga, kleines Geld, mitunter nur ein paar Hundert Zuschauer, egal. Fromlowitz ist nach sechs Jahren endlich wieder die unangefochtene Nummer eins, das Lokalblatt nennt seine Leistungen „überragend“.

Im Dezember 2015 Operation am Meniskus

Doch nur ein paar Monate später holt ihn das Pech wieder ein. Fromlowitz lässt sich im Dezember 2015 am Meniskus operieren, ein Routineeingriff am rechten Knie. Das Gelenk allerdings entzündet sich, ein Keim nistet sich ein, sogar die Amputation droht. Fünf weitere Operationen folgen in den kommenden Monaten. „Ich bin froh, dass ich zumindest wieder normal gehen kann“, sagt er an diesem Herbsttag in Kaiserslautern. Und Fußballspielen? Fromlowitz deutet nur auf die Physiotherapiepraxis gegenüber vom Café. „Da werde ich jetzt jeden Tag behandelt“, sagt er. Und bietet an: „.Sie können gerne mitkommen.“

Fromlowitz bahnt sich den Weg durch eine Seniorengruppe, die sich im Reha-Programm Bälle zuwirft, vorbei an einem gerahmten Torwarttrikot mit seinem Namen. Sein Therapeut Ricardo Bernardy massiert und dehnt das vernarbte Knie, nebenan auf der Liege wird Kaiserslauterns Mittelfeldspieler Daniel Halfar behandelt. Doch während Halfar die Tage bis zu seinem Comeback nach einem Muskelbündelriss zählen kann, muss sich Fromlowitz mit der drohenden Sportinvalidität beschäftigen.

„Wann hast du das letzte Mal gespielt?“, will Halfar wissen. „Im Dezember 2015 beim 3:4 gegen Offenbach“, antwortet Fromlowitz und greift nach seinem Smartphone: „Ein Gegentor kann ich euch im Internet zeigen.“ Er öffnet die Seite des Fußballhumoristen Arnd Zeigler, der die „Kacktore des Jahres 2015“ präsentiert, aufbereitet wie das „Tor des Jahres“. Die Sequenz zeigt ihn, Fromlowitz, wie ihm der Ball über den Spann springt und ins Tor kullert; Halfar und die Physiotherapeuten kriegen sich vor Lachen kaum ein.

Manches spricht dafür, dass der Slapstickmoment die letzte in Bewegtbild dokumentierte Fromlowitz-Szene bleiben wird. „Natürlich kämpfe ich um ein Comeback. Aber ich werde nicht riskieren, dass ich irgendwann nicht einmal mehr mit meinen Kindern spielen kann“, sagt er auf der Heimfahrt nach Landstuhl in seinem kleinen Citroën. Das Haus mit Blick in den Pfälzer Wald hat er mit seiner Frau Helene vor einem Jahr gekauft, die Wand im Wohnzimmer ist mit Bildern ihrer Hochzeit drapiert. Fromlowitz zeigt Fotos vom Umbau, wie seine Frau mit Verwandten Bauschutt wegräumt, Türen schleift: „Sie ist handwerklich im Gegensatz zu mir geschickt. Daher konnten wir vieles selbst machen; nur Firmen zu beauftragen wäre finanziell auch gar nicht gegangen.“

Die Fromlowitz müssen rechnen, er hat in seiner Karriere zwar passabel verdient, aber nicht annähend in heutigen Liga-Dimensionen. Leistungen aus einer Krankentagegeld-Versicherung könnte er jetzt gut gebrauchen, aber die hatte er gekündigt, zu teuer ohne Profieinkünfte. Aber Fromlowitz will nicht klagen: „Wir leben doch gut.“ Seine Frau will nach der Babypause wieder ins Berufsleben einsteigen, er selbst denkt an eine Umschulung zum Erzieher. „Ich bin gern mit Kindern zusammen.“

Manche Profis zerbrechen an vergleichbaren Pechsträhnen

War der Enke-Tod am Ende entscheidend, dass aus der ganz großen Bundesligakarriere nichts wurde? Fromlowitz überlegt lange: „Vielleicht habe ich aus Sicht meiner Trainer nicht mehr richtig funktioniert. Der Rucksack war schon sehr schwer“, sagt er dann. Andererseits war das Jahr nach dem Drama seine beste Zeit: „Ich habe wohl bei meinen Wechseln zu viele Fehler gemacht.“

Womöglich war einer wie er für den Kampf um die Nummer eins auch schlicht zu nett. Ausgerechnet Fromlowitz, Ironie des Schicksals, hatte Hannover 96 empfohlen, das Talent Zieler zu verpflichten. Jenen Zieler, der ihn dann verdrängen sollte. Und als er später gegen Pirmasens sein erstes Spiel in der Regionalliga für Homburg bestreiten sollte, wollte Fromlowitz erst nicht, „das sind doch die Jungs, bei denen ich mich damals fit halten durfte“. Unvorstellbar, dass ein Oliver Kahn so gehandelt hätte. Fromlowitz gibt zu: „Vielleicht hätte ich kaltschnäuziger sein müssen.“

Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass diese Art gerade jetzt für das Leben danach genau die richtige ist. Manche Profis zerbrechen an vergleichbaren Pechsträhnen, dribbeln nach dem Ende der Karriere auch ins menschliche Abseits. Fromlowitz hat dagegen eine echte Tragödie hautnah erlebt. Daher würde er seinen Weg nie ein Drama nennen, im Gegenteil: „Ich durfte 70 Bundesliga-Spiele bestreiten, davon träumen viele.“

Zum Abschied zeigt Fromlowitz noch ein Video von seinem inzwischen drei Jahre alten Söhnchen Matteo Levi, der auf dem Gartentrampolin nach einem Ball hechtet. „Torwart“, sagt seine Frau dann, „wird der aber nicht.“

Wen Selbstmordgedanken quälen, der kann sich Tag und Nacht kostenlos an die Telefonseelsorge (0800/111 01 11) wenden.