Hamburg. Sylvia Pille-Steppat war Hamburgs schnellste Marathonläuferin. Nach einer Erkrankung will sie als Ruderin zu den Paralympics 2016.

Anfangs, sagt Sylvia Pille-Steppat, habe sie unheimlich Angst gehabt. Vor dem Wasser, dem kippeligen Ruderboot, davor, hineinzufallen. Dabei habe sie sich damals sogar noch ein bisschen mit den Beinen abdrücken können. Das geht jetzt nicht mehr, aber die Bewegungen sind Routine geworden. Nur auf dem steilen Weg hinunter zum Anleger des Wilhelmsburger Ruder-Clubs lässt sich Pille-Steppat helfen, den Rest erledigt sie selbst: das Heruntergleiten vom Rollstuhl, das Hinüberwuchten zum Boot, das Platzieren des Körpers auf dem Sitz, das Festgurten der Beine. Dann kann es losgehen, die letzten Trainingsschläge, bevor es bei der WM auf dem Lac d’Aiguebelette in Frankreich an diesem Montag im Vorlauf ernst wird.

Sie hat sich das alles in nur zwei Jahren angeeignet, mit der Geschwindigkeit und der Geschicklichkeit einer Leistungssportlerin. Pille-Steppat, 47, war einmal Hamburgs schnellste Langstreckenläuferin. 1998 gewann sie beim Hamburg-Marathon den Meistertitel in 2:56:41 Stunden, 2002 siegte sie ein zweites Mal in 2:57:52.

Noch im gleichen Jahr wurde bei ihr Multiple Sklerosediagnostiziert. Die Beine waren gleich betroffen. Dass sie irgendwann nicht mehr würde laufen können, konnte sich Sylvia Pille-Steppat nicht vorstellen. Sie wollte es auch nicht: „Ich dachte, wenn ich einfach immer weiterlaufe, wird es nicht so weit kommen.“ Sie zog ja jeden Tag die Laufschuhe an, fuhr ins Trainingslager. Laufen war ihre Leidenschaft, die sie mit ihrem Mann Bernd Pille verband, mit dem sie zwei Kinder hat.

Aber sie konnte der Krankheit nicht davonlaufen. 2009 bestritt Pille-Steppat ihren letzten Marathon, „da bin ich aber schon gehumpelt“. 3:48:59 Stunden hat sie benötigt, fast eine Stunde mehr als bei ihrer Bestleistung. Zwei Jahre später musste sie ihren geliebten Sport aufgeben.

Seit 2013 ist die Architektin auf den Rollstuhl angewiesen, Autofahren kann sie nicht mehr, auch nicht auf Baustellen arbeiten wie früher. Inzwischen ist sie als Dozentin in der Erwachsenenbildung tätig, sie unterrichtet Projektmanagement im Immobiliensektor.

Sylvia Pille-Steppats Körper ist immer noch der einer Ausdauerathletin, schlank, zäh, durchtrainiert. Und ihr Lachen strahlt unter den langen schwarzen Locken immer noch genauso hell wie auf den Siegerfotos von damals. Wie schafft sie das nur? Pille-Steppat sagt: „Ich kann ja immer noch etwas machen. Das Rudern hat mir neue Möglichkeiten eröffnet.“

Zum Beispiel die Paralympics 2016 in Rio. Mindestens den achten Platz muss sie dafür bei der WM belegen, 15 Starterinnen sind gemeldet. Eine zweite Gelegenheit gäbe es noch im nächsten Frühjahr bei einer Qualifikationsregatta in Mailand, bei der die letzten beiden Tickets für Rio vergeben werden. Danach bliebe nur die Hoffnung auf eine von zwei Wildcards.

Pille-Steppat steigt dreimal pro Woche ins Boot, dazu kommen Kraft- und Konditionseinheiten. Schon vor einem Jahr in Amsterdam war sie bei der WM am Start, damals im Mixed-Doppelzweier in der Klasse TA. Inzwischen hat ihr Partner aufgehört. Pille-Steppat machte weiter, obwohl ihre Krankheit vorangeschritten ist. Neuerdings machen sich auch an Rumpf und Armen Beeinträchtigungen bemerkbar. Sie sagt: „In die volle Auslage komme ich nicht mehr.“ Insofern komme ihr ihre neue Einerklasse AS entgegen: Der Oberkörper wird am Sitz fixiert, die Kraft kommt nur aus Armen und Schultern. Schwimmer sichern das Boot gegen Kentern.

Hamburger Marathon 2003: Sylvia Pille
ist die schnellste Hamburgerin
Hamburger Marathon 2003: Sylvia Pille ist die schnellste Hamburgerin © Bongarts

Vor zwei Wochen beim Trainingslager in Rüdersdorf bei Berlin hat Pille-Steppat erstmals in einem solchen Boot gesessen. Und war angetan: „Es ist viel stabiler, ich komme sogar besser in die Auslage.“ Beim Trainingsalltag auf dem Aßmannkanal und der Wilhelmsburger Dove Elbe benutzt sie noch ein Modell ohne Rückenlehne und Schwimmer. Damit es sachgerecht gelagert werden kann, hat das Bezirksamt Mitte 8500 Euro für den Ausbau des Bootshauses zur Verfügung gestellt.

Seit 2002 gehört Handicaprudern zum WM-Programm, seit 2005 zum sogenannten Kanon der paralympischen Sportarten. Derzeit werden fünf Behinderungsklassen unterschieden. Es müssten viel mehr sein, wollte man gleiche Voraussetzungen schaffen. „Letztendlich werden Sportler erfolgreich, die in ihrer Klasse am wenigsten behindert sind“, heißt es auf der Website des Deutschen Ruderverbands.

Auf Sylvia Pille-Steppat dürfte das kaum zutreffen. Ihre Behinderung ist nicht statisch, sie schreitet voran. Ihre Chancen bei der WM könne sie nicht einschätzen. Die Schnellsten brauchen fünfeinhalb Minuten für die 1000-Meter-Strecke. Pille-Steppat war im Training mehr als sechs Minuten unterwegs. Die Distanz ist für eine Marathonfrau wie sie ein Sprint. „Eher wie ein 800-Meter-Lauf“, sagt sie, „es tut von Anfang an weh.“ Im April war sie wieder beim Hamburg-Marathon dabei. In 2:04:59 Stunden wurde sie Dritte ihrer Altersklasse auf dem Handbike. Persönliche Bestzeit.