Hamburg . Dopingexperte Simon warnt den Profifußball davor, seinen Stellenwert als Sportart Nummer eins zu verlieren. Auch Lienen bezieht Stellung.

In der Debatte über mögliche Dopingpraktiken im Fußball in den 70-er und 80-er Jahren hat sich nun auch St. Paulis Cheftrainer Ewald Lienen geäußert. „Es wäre doch ein Wunder, wenn Fußball die einzige Sportart wäre, in der so etwas nicht passiert ist“, sagte Lienen am Freitag.

Der 61 Jahre alte Trainer war zwischen 1974 und 1987 für Arminia Bielefeld und Borussia Mönchengladbach als Spieler in der Bundesliga und in der Zweiten Liga aktiv. Lienen sei sich sicher, dass viele Spieler zu dieser Zeit Aufputschmittel genommen hätten.

Er selbst habe aber nie etwas gesehen oder genommen. Doping im Fußball hält Lienen ohnehin für nicht leistungsfördernd. „Das soll mir erstmal jemand erklären, wie das funktioniert.“

„Dann gucken wir vielleicht Handball“

Die Doping-Enthüllungen und der mangelhafte Willen zur Aufarbeitung des Tabuthemas könnten „König Fußball“ sogar vom Thron stoßen. „Es war schon immer so, dass ab einer gewissen Dekadenz auch große Systeme zerbrochen sind“, sagte Dopingexperte Perikles Simon, der den Status des Fußballs als Sportart Nummer eins gefährdet sieht: „Dann kippt das und wir gucken vielleicht Handball.“

Der Mainzer Dopingforscher sagte dem Tagesspiegel, dass der Fußball „seine Selbstreinigungskräfte mobilisieren oder sich helfen lassen“ muss: Denn ich glaube, dass das Maß irgendwann voll ist.“

Nach Ansicht von Paul Breitner ist das Fass sogar schon längst übergelaufen. Der frühere Weltmeister attestiert dem Fußball eine „seit Jahren gelebte verlogene“ Mentalität. „Ich habe als Aktiver und auch nach meiner Karriere immer gesagt, dass im Fußball gedopt wird“, sagte der langjährige Bayern-Profi in der Münchner tz.

Die Aussagen Simons wiegen umso schwerer, da er Mitglied der Evaluierungskommission Freiburger Sportmedizin ist. Aus der Kommission heraus waren am Montag erste Erkenntnisse an die Öffentlichkeit gelangt. Demnach sei in den „späten 1970er und frühen 1980er Jahren“ beim Bundesligisten VfB Stuttgart „im größeren Umfang“ und „wenn auch nur punktuell nachweisbar“ beim damaligen Zweitligisten SC Freiburg Anabolika-Doping vorgenommen worden.

Bei Aufklärung fehlt politischer Wille

Da die Aufarbeitung der Enthüllungen mehrere Wochen in Anspruch nehmen wird, soll es von offizieller Seite vorerst keine weiteren Veröffentlichungen geben. Das erklärte die Kommissionsvorsitzende Letizia Paoli am Donnerstag auf Anfrage des VfB.

In ihrem Schreiben betonten die Schwaben, dass ihnen „sehr viel an einer nachhaltigen Aufklärung dieses Sachverhalts“ liege. Zudem sagte der Verein „der Kommission die volle Unterstützung bei ihrer Arbeit zu“.

Simon fehlt bei der Aufklärung aber der politische Wille. „Es sollte ihn aber vor allem dann geben, wenn Minderjährige in einer Form von dem System eingenommen werden, dass die Persönlichkeit massiv geändert wird“, sagte Simon: „Und für solche Konstellationen ist der Staat verantwortlich. Es geht darum, nicht auszublenden, dass es dabei um Mitbürger und Mitbürgerinnen geht, die man schützen muss. Sie sind als teilweise minderjährige Leistungssportler das absolut schwächste Rad in einem Milliarden-Dollar-Business.“

Es werde aber „nichts getan, nichts investiert, um den Missbrauch dieser Spieler und ihrer Körper zu stoppen“, warnte Simon: „Das ist eine Unverschämtheit, nichts anderes. Ich kann es mir nur so erklären, dass allein die Frage nach Doping im Fußball ein absolutes Tabu ist.“

„Fußball ist eine heilige Kuh“

Die Argumentation, Doping bewirke im Fußball nichts, hält Simon für falsch. „Man muss doch nur mal an die Basisvernunft der Leute appellieren“, sagte der Doping-Experte: „Es ist doch jedem klar, dass man eine entsprechende Kondition haben muss, um diese Spitzenleistungen zu bringen, die wir vor dem Fernseher sehen.“ Doch „praktisch keiner“ habe Interesse daran, das System Fußball kritisch zu hinterfragen.

Breitner sieht es genauso. „Fußball ist eine heilige Kuh, die nicht angekratzt werden darf“, sagte der 63-Jährige. Er freue sich deshalb, „dass endlich rauskommt, dass auch im Westen gedopt wurde“, sagte er: „Zu meiner aktiven Zeit hat man mit erhobenem Finger in den Osten gezeigt und gesagt: Die sind voll wie eine Haubitze. Und wir nicht? Pustekuchen!“

Deshalb steht für Breitner fest: „Wir sollten zu dieser Dopingvergangenheit stehen und fertig. Heute sind wir dopingfrei, das können wir sagen.“ Er selbst habe Doping „nie probiert“, das habe ihm seine gute Erziehung verboten, und auch Angebote will Breitner nicht erhalten haben: „In meiner Sturm-und-Drang-Phase wäre ich demjenigen an die Gurgel gesprungen.“