Nach dem Fast-Abstieg in die Dritte Liga geht der HSV Handball zuversichtlich in die neue Bundesliga-Spielzeit. Grund dafür ist ein Neuanfang in fast allen Bereichen. Am Sonntag erstes Saisonspiel in Gummersbach. Neuzugang Richard Hanisch ist schon dabei.

Hamburg. Keine Fragen bitte zu Martin Schwalb, 51, dem gekündigten ehemaligen Trainer, Geschäftsführer und Präsidenten, der den Verein gerade beim Arbeitsgericht Hamburg auf Wiedereinstellung verklagt. Keine Angaben zum Saisonetat, der von 9,6 Millionen auf wohl sechs Millionen Euro reduziert wird. Nur vage Aussagen zu den sportlichen Zielen, bis auf die Einschätzung von Kapitän Pascal Hens, 34, dass man diesmal mit der Meisterschaft wohl nichts zu tun haben werde, man aber für Überraschungen gut genug sei. Der Handball-Sport-Verein (HSV) Hamburg übt sich vor dem Bundesligastart an diesem Sonntagnachmittag (15 Uhr, Livestream bei Sport1) beim VfL Gummersbach in ungewohnter Zurückhaltung und Bescheidenheit.

Der Club sucht Orientierung, schüttelt und rüttelt sich immer noch, nachdem er die Lizenz für die Bundesligasaison erst in dritter Instanz vom Schiedsgericht der Handball-Bundesliga (HBL) erhalten hat. Das passiert am 1. Juli, als die neue Saison bereits einen Tag alt ist. Die geforderte Patronatserklärung des Mäzens, Hauptsponsors und ehemaligen Präsidenten Andreas Rudolph, 59, trifft um 16.56 Uhr auf der Verbands-Geschäftsstelle in Dortmund ein. Präsidenten-Bruder Matthias, 56, wartet vor Ort drei Stunden auf das entscheidende Papier. Vier Minuten später hätte der deutsche Meister von 2011 und Champions-League-Sieger von 2013 einen Neustart in der Dritten Liga wagen müssen. So bleibt er in Liga eins, was einige im Verein und bei den Fans bis heute bedauern. „Wir haben in allen Bereichen, sportlich, wirtschaftlich, mindestens vier wertvolle Wochen Zeit verloren“, sagt der neue Geschäftsführer Christian Fitzek, 53. Er kehrt am 6. August vom Zweitligaclub VfL Bad Schwartau in jenen Verein zurück, für den er zwischen 2004 und 2011 bereits als Co-Trainer, Trainer und Sportchef arbeitete.

Im Mai und Juni kämpft der Bundesligavierte der vergangenen Saison noch um den Klassenerhalt, um die Bezahlung offen stehender Rechnungen und Gehälter von mehr als drei Millionen Euro, gegen die drohende Insolvenz der Spielbetriebs GmbH Co. & KG – und gegen eine Spaltung des Clubs. Wichtige Repräsentanten aus Präsidium und Aufsichtsrat sind gewillt, den gordischen Knoten der jahrelangen byzantinischen Abhängigkeit zu den Rudolph-Brüdern zu zerschlagen und den Zwangsabstieg aus der Bundesliga zu akzeptieren, den die HBL in erster und zweiter Instanz verfügt hat. Die beiden Männer sind leidenschaftliche Handball-Fans, aber sie wollen auch alle wichtigen und unwichtigen Entscheidungen treffen, was bei Andreas Rudolphs Millionen-Einsatz verständlich bleibt. Die Art und Weise allerdings, wie sie ihre Macht ausüben, stößt im Verein im Laufe der Jahre auf immer weniger Verständnis.

Der Unternehmer (ECE) und Sportmäzen Alexander Otto, 47, wie der ehemalige HSV-Fußball-Präsident Jürgen Hunke, 71, stehen zu diesem Zeitpunkt bereit, einen Neuanfang ohne die Rudolphs zu finanzieren. Von insgesamt zwei Millionen Euro ist die Rede. Am Ende tut Andreas Rudolph das, was er immer tat, und worauf bis zum März dieses Jahres neun Jahre lang Monat für Monat Verlass ist: Er bürgt, und er zahlt. Es kann weitergehen, nicht wie bisher in Saus und Braus, aber weiter.

Die Grabenkämpfe nach innen und außen fordern jedoch ihren Preis; was sich bis heute in dem schleppenden Verkauf der Dauerkarten niederschlägt. Bislang seien knapp 4000 geordert, heißt es vor dem ersten Saisonwurf. 5200 sieht der Wirtschaftsplan vor, in dem über das Jahr bei einem erhofften Besucherschnitt zwischen 6500 und 7000 Eintrittsgelder von zwei Millionen Euro kalkuliert sind. Für die ersten beiden Heimspiele, am nächsten Freitagabend (19.45 Uhr, O2 World, Sylversterallee) gegen die TSV Hannover-Burgdorf und zwei Tage später (Sonntag, 17.15 Uhr, O2 World) gegen den THW Kiel sind in der Arena am Volkspark noch ganze Ränge unbesetzt.

Sportlich wird ebenfalls ein Neuanfang nötig. Nachdem bereits Welthandballer Domagoj Duvnjak, 25, den Verein zum deutschen Rekordmeister THW Kiel verlassen hat, folgt ihm im Juni der zweite HSV-Spielmacher, der spanische Weltmeister Joan Cañellas, 27. Der schwedische Kreisläufer Andreas Nilsson, 24, wird Ende Juli an den ungarischen Abonnementsmeister MKB Veszprém verkauft, was das Budget um rund eine halbe Million Euro (Gehalt plus Ablösesumme) entlastet.

Zuvor werden die Verträge mit dem Halblinken Blazenko Lackovic, 33, dem Halbrechten Zarko Markovic, 27, sowie Torhüter Marcus Cleverly, 33, nicht verlängert. Sechs Weltstars haben den Verein in den vergangenen Monaten gelassen, geholt werden mit Alexander Feld, 21, Tim Stefan, 19, der aus der eigenen Jugend kommt, zwei talentierte Nachwuchsleute, dazu der ehemalige Nationalspieler Kevin Schmidt, 26, und zuletzt Alexandru Viorel Simicu, 25, Rumäniens Handballer des Jahres. Am Freitagmittag stößt mit dem schwedischen Junioren-Nationalspieler Richard Hanisch, 24, der bislang letzte Neuzugang zum Team. In Gummersbach gehört der Spielmacher bereits zum Aufgebot. Wie alle Neuen erhält er einen Einjahresvertrag. Trainer Christian Gaudin ist fürs Erste zufrieden. „Die Struktur im Kader stimmt jetzt“, sagt er. Die Bilanz des zweiten Revirements innerhalb von zwölf Monaten: Der HSV ist jünger geworden, wahrscheinlich aber auch schwächer.

Finanziell ist der Verein auf dem Boden betriebswirtschaftlicher Grundlagen angekommen und scheint gewillt, nur noch das auszugeben, was er ohne Rudolphs jahrelange private Millionen-Zuwendungen einnimmt. Für den Abriss der Komfortzonen ist Fitzek geholt worden, um mit Spielern und Beratern Verträge im Realitätsmodus abzuschließen. An diesem, möglichst erfolgreichen, Vorgehen wird er später von den Rudolph-Brüdern gemessen werden.

Selbst das ehrgeizigste Ziel dieser Spielzeit, erstmals in der Geschichte des HSV Hamburg seit 2002 am Ende der Serie eine schwarze Null zu schreiben, liegt plötzlich im Bereich des Machbaren. Interims-Geschäftsführer Karl Gladeck, 47, für den Vertrieb zuständig, rechnet sogar mit einem kleinen Gewinn. Dass inzwischen fast alle zwischenzeitlich abgesprungenen Sponsoren und Partner zurückgekehrt sind, nährt diese Hoffnung.

Und dann ist da natürlich noch der neue Trainer; auch ein Hoffnungsträger. Christian Gaudin, 47, lässiges Hemd, nackenlanges, grau meliertes Haar, Franzose, Weltmeister 1995 und 2001, Weltklasse-Torhüter mit sechs Jahren Bundesliga-Erfahrung beim VfL Hameln (1997 bis 1999) und anschließend bis 2003 beim SC Magdeburg, mit dem er 2002 die Champions League gewinnt. Wie akribisch und gewissenhaft Gaudin seinen neuen Job in Hamburg versteht, hat die Mannschaft in den vergangenen fünf Wochen erlebt. Statt Übungsabläufe abzuspulen, greift der Trainer korrigierend in die Einheiten ein, wenn Engagement und Ausführung nicht seinen Vorstellungen entsprechen. Nach einer „viel zu kurzen Vorbereitung“ – fünf statt gewöhnlich sieben Wochen – und den personellen Veränderungen glaubt Gaudin dennoch für die wahrscheinlich schwierigste Saison der bisherigen Vereinsgeschichte gewappnet zu sein. „Ich habe das beste Team der Liga“, sagt er. Das klingt nach Motivation.

Dass ein neuer Trainer einen starken Schub auslöst, ist nicht ungewöhnlich. Vorgänger Schwalb prägte das Team und den Verein fast neun Jahre lang. „Natürlich schleifen sich in Mannschaften, wenn sie über Jahre in ähnlichen personellen Konstellationen zusammenspielen, gewisse Verhaltensweisen ein“, sagt Gaudin. „Vieles gerät zur Routine, was tendenziell die Aufmerksamkeit senkt. Insofern sind Veränderungen immer mal wieder notwendig und im Sport auch etwas ganz Normales.“ Die Basis, die er beim HSV vorgefunden habe, sei ausgezeichnet. „Die Mannschaft hat weiter große Qualität, eine hohe Moral und eine professionelle Einstellung. Alle waren fit, als wir mit dem Training begonnen haben. Das hat mir imponiert.“

Auch der Einbau von Talenten gehört zu den Anforderungen an den neuen Trainer. „Es wird eine meiner wichtigsten Aufgaben sein, sie mittelfristig in die Mannschaft zu integrieren. Ich sehe bei allen unseren jungen Spielern Potenzial, und sie werden ihre Chancen erhalten. Das muss geduldig vorbereitet werden und die Gesamtsituation möglichst stabil sein. Das ist sie noch nicht.“ Kandidaten für den Sprung von der U23-Oberliga-Mannschaft in den Bundesligakader sind der bullige Kreisläufer Tim-Oliver Brauer, 22, und der geschmeidige Torhüter Justin Rundt, 19.

In der Vorbereitung dürfen die Talente regelmäßig aufs Feld, selbst wenn dadurch ein möglicher Sieg in Gefahr gerät. „Nur so können sie die nötige Härte gewinnen“, sagt der Trainer. Im Verein hat man diesen Paradigmenwechsel mit viel Wohlwollen registriert. Der neue HSV – er hat nach den Turbulenzen der vergangenen Monate wieder eine Perspektive.

„Man sollte uns auf der Rechnung haben“, sagt Torhüter Johannes Bitter, 31, der Weltmeister von 2007. Schon jetzt – und nicht irgendwann.