Außenverteidiger? Mittelstürmer? Die Rücktritte von Kapitän Lahm und Torjäger Klose verschaffen Joachim Löw einige Herausforderungen im neuen „EM-Projekt 2016“. Am Anfang aber steht die Kapitänsfrage.

München. Kein Lahm mehr, auch kein Klose – gleich nach der Rückkehr aus dem Weltmeister-Urlaub erwarten Joachim Löw ungewohnte Bedingungen und einige neue Herausforderungen beim anstehenden Neustart mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Auf dem Weg zum nächsten großen Ziel, der Europameisterschaft 2016 in Frankreich, dürfte der Bundestrainer schon Anfang des kommenden Monats im ersten Qualifikationsspiel gegen Schottland erste Weichen stellen und Hinweise geben, ob der Umbruch auch noch größer ausfallen könnte.

An Löws Motivation für das neue „EM-Projekt 2016“ gibt es beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) keinerlei Zweifel. „Ich weiß von ihm, dass er nach dem Triumph von Maracanã weitere Titel anstrebt“, äußerte DFB-Präsident Wolfgang Niersbach.

Löw muss dafür nicht nur die Lücken schließen, welche die langjährigen Führungskräfte Lahm und Klose reißen. Es gilt auch, einen neuen Kapitän und einen Nachfolger für seinen zum DFB-Sportdirektor aufsteigenden Assistenztrainer Hansi Flick zu präsentieren. „Wir werden für alle Fragen gute Lösungen finden“, hatte der zum „Trainer des Jahres“ gekürte Löw versichert.

Das sportliche Fundament bei der Nummer 1 der FIFA-Weltrangliste ist gegeben. „Ich glaube, dass wir schon das Potenzial haben, auch die nächsten Jahre in der Weltspitze sein zu können“, hatte Löw in Rio schon vor dem 1:0-Triumph im WM-Finale gegen Argentinien gesagt.

Nach der ersten DFB-Pokal-Runde und dem ersten Bundesliga-Spieltag wird er Ende des Monats den Nationalmannschafts-Kader für den emotionalen Lahm-und-Klose-Abschiedsabend am 3. September in Düsseldorf gegen Argentinien und den EM-Qualifikationsauftakt vier Tage später in Dortmund gegen Schottland benennen. Viele Weltmeister von Rio werden eine Einladung erhalten – aber alle? Bereits in Brasilien sprach Löw von Spielern, „die sicherlich im Moment auf ihrem Zenit spielen“.

Kapitän Lahm (30) und Torjäger Klose (36) hatte Löw damit auch gemeint, aber beide hätte er noch gerne weiterbeschäftigt. Er hatte sich sogar extra während seines Urlaubs noch einmal in Italien mit Angreifer Klose getroffen. Löws Aussage, dass Kloses Entschluss zum Rücktritt „unumkehrbar“ gewesen sei, „dass ich ihn nicht mehr umstimmen kann“, belegt, dass der Bundestrainer den Team-Senior persönlich noch nicht abgeschrieben hatte.

Ein Grund liegt auf der Hand. Trotz des WM-Titels offenbart das deutsche Team erstaunliche Problemzonen. „Auf drei Positionen haben wir insgesamt Probleme“, hob DFB-Chef Niersbach hervor, „auf beiden Außenverteidigerpositionen und beim klassischen Stürmer. Da sind unsere Trainer im Nachwuchsbereich gefordert.“

Für den links und rechts weltklasse verteidigenden Lahm sowie Rekordtorjäger Klose (71 Länderspieltore) gibt es keine Nachfolger, die sofort parat stehen. Bei der WM verteidigten zunächst rechts (Boateng) und links (Höwedes) im gesamten Turnier zwei Innenverteidiger. Und ohne Klose könnte das Thema „falsche Neun“, das den Bundestrainer nervt, immer wieder neu befeuert werden.

Der nach etlichen Verletzungen nicht für die WM nominierte Mario Gomez (29), der in 59 Länderspielen 25 Mal ins Tor traf, und HSV-Torjäger Pierre-Michel Lasogga (22) verkörpern am ehesten den klassischen Mittelstürmer, den Klose allerdings noch um die Gabe des kombinationsstarken Angreifers erweiterte. „Seine Karriere in der Nationalmannschaft ist auf keinen Fall beendet“, hatte Löw Mitte Mai betont, als er den vorläufigen WM-Kader ohne Gomez benannte.

Marco Reus, Ilkay Gündogan, dazu die Bender-Zwillinge, womöglich auch der langzeitverletzte Münchner Holger Badstuber – einige prominente WM-Fehlende könnten oder werden zurück ins Team drängen. Dazu wollen sich WM-Azubis wie der Gladbacher Christoph Kramer (23), der Schalker Julian Draxler (20) oder der Neu-Dortmunder Matthias Ginter (20) für größere Rollen beim EM-Turnier 2016 und der WM 2018 anbieten.

Eine Frage mit Zukunftsperspektive ist die, wem Löw nach dem Rücktritt von Lahm die Kapitänsbinde anvertraut. Eine logische Antwort wäre die Beförderung des bisherigen Stellvertreters Bastian Schweinsteiger (30). Der Bundestrainer könnte aber auch einen Mann mit langfristigerer DFB-Zukunft wählen, etwa Mittelfeldspieler Sami Khedira (27), Torwart Manuel Neuer (28) oder vielleicht sogar den gerade bei Borussia Dortmund zum Kapitän aufgestiegenen Innenverteidiger Mats Hummels (25).

Der vermeintliche Favorit Schweinsteiger sagte zu dem öffentlichkeitswirksamen Thema: „Die Binde zu tragen, macht einen natürlich stolz. Aber ich bin ein Spieler, der auch ohne Kapitänsbinde vorangehen kann. Der Bundestrainer wird die richtige Entscheidung fällen.“ Es wird nicht die einzige Entscheidung bleiben.