Stefan Kießlings Phantom-Tor von Hoffenheim erhitzt weiter die Gemüter in Deutschland. Nun ist sogar das Schiedsrichter-Lager gespalten. Ein Wiederholungsspiel wird es aber vermutlich nicht geben.

Köln. Stefan Kießling und Felix Brych trauen ihren Augen nicht, 1899 Hoffenheim will ein Wiederholungsspiel, Bayer Leverkusen schämt sich fast, DFB und Fifa verweisen auf Formalien, und die Schiedsrichter-Gilde ist gespalten: Das zweite Phantom-Tor der Bundesliga-Geschichte erhitzt in Fußball-Deutschland die Gemüter. Im Mittelpunkt der Diskussionen über die überfällig erscheinende Einführung einer Torlinien-Technik hinaus stehen nach Kießlings 2:0 für Leverkusen in Hoffenheim (Endstand: 2:1) die Reaktionen des „Torschützen wider Willen“ und von Schiedsrichter Brych. Der Referee hat nach seiner krassen Fehlentscheidung nicht einmal im eigenen Lager uneingeschränkte Rückendeckung.

„Man kann ja nicht von Wahrnehmungsfehler sprechen, weil der Ball eindeutig vorbeigegangen ist. Die Sache hätte man anders lösen müssen“, sagte der frühere WM-Schiedsrichter Bernd Heynemann (Magdeburg) beim TV-Sender Sky Sport News HD. Heynemann glaubt, dass Brych sich vom Leverkusener Jubel beeinflussen lassen hat. „Er dreht sich ja schon weg zum Abstoß. Die ganze Gestik deutet auf Abstoß, und Kießling fast sich an den Kopf, dass er den nicht verwandelt hat. Plötzlich kommen die Spieler von der rechten Seite, die das Ganze vielleicht wirklich nicht sehen konnten, und gratulieren ihm.“

Brych, Deutschlands amtierender „Schiedsrichter des Jahres“ und zumindest bislang erster Anwärter unter den deutschen „Schwarzkitteln“ auf eine Nominierung für die WM 2014 in Brasilien, hatte die Szene anders erlebt: „Ich hatte kleine Zweifel, aber die Reaktionen der Spieler waren eindeutig. Es gab kein Anzeichen, dass es ein irreguläres Tor sein könnte. Ich habe mich mit Stefan Kießling ausgetauscht. Aber niemand, auch er nicht, hat mir gesagt, dass es kein Tor war.“ Diesen Mangel an Fair Play wirft „Brych-Vorgänger“ Hans-Joachim Osmers (Bremen), der 1994 in einer ähnlichen Situation einen Treffer von Thomas Helmer für Bayern München gegen den 1. FC Nürnberg und damit das erste Phantom-Tor der Bundesliga-Historie gegeben hatte, Kießling vor.

„Für mich hat Kießling ganz klar erkannt, dass der Ball nicht ins Tor gegangen ist. Da wäre Fair Play Kießlings Pflicht und Schuldigkeit gewesen. Er hätte es sagen müssen. Brych hätte die Unterstützung von Kießling und anderen Spielern gebraucht, die auch gesehen haben, dass es kein Tor war. Aber da sieht man, dass die ganzen Fair-Play-Kampagnen der Verbände wohl nichts wert sind“, sagte Osmers. Kießling, der sich enttäuscht abgedreht und kurz darauf dennoch als Torschütze beglückwünschen ließ, gemimt hatte, rechtfertigte sein Verhalten via Facebook: „Ich habe nicht genau gesehen, ob der Ball korrekt ins Tor gegangen ist oder nicht. Irgendwie lag der Ball im Tor. Genau das habe ich auch dem Schiedsrichter gesagt. So zu gewinnen, ist natürlich nicht schön. Fairness ist wichtig für den Sport, bei uns im Verein und für mich ganz persönlich.“

Helmer, der Phantom-Torschütze von München 1994, zeigte Verständnis für den Bayer-Torjäger. „Er hat genauso alles falsch gemacht wie ich“, schrieb der Europameister zwar bei Facebook, räumte bei Sport1 allerdings auch ein: „Es geht um Sekunden, und du weißt als Schütze selbst nicht so genau, ob er drin war. Kießling wird auch überlegt haben: Was mach' ich jetzt, was ist passiert. Und diese Sekunden entscheiden darüber, bist du jetzt der liebe Junge oder der böse Bube.“

Differenziert bewertet Kießlings Rolle beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) der zuständige Vizepräsident Rainer Koch (Poing). „Man sollte nicht die Integrität von Stefan Kießling infrage stellen, aber er hat natürlich auch die Pflicht zu sagen, wenn da was gewesen ist“, sagte Koch bei Sport1. Generell lehnte Koch mit Blick auf den in Hoffenheims Verantwortung liegenden Defekt im Tornetz ein „Schwarzer Peter“-Spiel ab. „Wir sollten akzeptieren, dass es eine Verkettung höchst unglücklicher Umstände gegeben hat.“ Für die Aufarbeitung durch die DFB-Sportgerichtsbarkeit signalisierte Koch zwar Verständnis für Hoffenheim Protest („Muss die Tatsachenentscheidung geschützt werden, wenn sich der damit beabsichtigte Schutz für die Schiedsrichter umkehrt? Solche Tore brauchen wir alle nicht“), verwies aber auch die dogmatische Haltung des Weltverbandes Fifa: „Wir haben das schon weitergeleitet mit Bitte um Stellungnahme, denn wir wollen alles richtig machen und nicht später von der Fifa zurückgepfiffen werden. Man kann ja nicht einfach das Recht beugen.“

1994 hatte die Fifa den DFB wegen der Annullierung der Münchner Begegnung scharf kritisiert. Auch deswegen verwies Geschäftsführer Andreas Rettig von der Deutschen Fußball Liga (DFL) auf den tabu-ähnlichen Stellenwert der Tatsachenentscheidung. „Das ist ein Spagat, aber am Ende sind wir nicht im luftleeren Raum. Statuten bereiten hier und da auch Bauchschmerzen“, sagte Rettig bei Sky. Hoffenheim sieht den für eine Neuansetzung notwendigen Beweis für einen Regelverstoß von Brych bereits durch die Aussagen des Münchner Unparteiischen als erbracht an. „Laut Regeln darf ein Schiedsrichter kein Tor geben, wenn er Zweifel hat. Felix Brych hat aber selbst von kleinen Zweifeln gesprochen“, sagte 1899-Fußballchef Alexander Rosen.