Stefan Kießlings Phantom-Tor von Hoffenheim erhitzt die Gemüter. Der Torjäger und Dr. Brych stehen in der Kritik. Ob das Spiel wiederholt wird, hängt auch am Weltverband Fifa.

Köln. Das zweite Phantom-Tor in der Geschichte der Fußball-Bundesliga erhitzt die Gemüter. 1899 Hoffenheim hat wegen der krassen Fehlentscheidung von Schiedsrichter Felix Brych (München) nach Stefan Kießlings Kopfball-Fehlversuch beim 2:1-Sieg von Bayer Leverkusen schon Protest gegen die Wertung eingelegt und verweist auf den fast 20 Jahre zurückliegenden „Präzedenzfall Thomas Helmer“.

Unabhängig von einer Neuansetzung der Begegnung, über die das Sportgericht des Deutschen Fußball-Bund (DFB) nach Worten von DFL-Geschäftsführer Rettig erst nach dem DFB-Bundestag am 24. und 25. Oktober entscheiden wird, gerieten Brych und Kießling gleichermaßen in die Kritik. Die skurille Szene heizt zudem die Debatte über die Einführung technischer Hilfsmittel für strittige Tor-Entscheidungen an.

Noch praktisch allein auf sich gestellt lud Brych auch Kritik aus der Schiedsrichter-Gilde auf sich. „Man kann ja nicht von Wahrnehmungsfehler sprechen, weil der Ball eindeutig vorbeigegangen ist. Die Sache hätte man anders lösen müssen“, sagte der frühere WM-Schiedsrichter Bernd Heynemann (Magdeburg) beim TV-Sender Sky Sport News HD. Heynemann glaubt, dass Brych sich vom Jubel der Bayer-Profis beeinflussen lassen hat. „Er dreht sich ja schon weg zum Abstoß. Die ganze Gestik deutet auf Abstoß, und Kießling fasst sich an den Kopf, dass er den nicht verwandelt hat. Plötzlich kommen die Spieler von der rechten Seite, die das Ganze vielleicht wirklich nicht sehen konnten, und gratulieren ihm.“

Brych hatte die Szene völlig anders beschrieben: „Ich hatte kleine Zweifel, aber die Reaktionen der Spieler waren eindeutig. Es gab kein Anzeichen, dass es ein irreguläres Tor sein könnte. Deshalb habe ich Tor gegeben. Ich habe mich mit Stefan Kießling ausgetauscht. Aber niemand, auch er nicht, hat mir gesagt, dass es kein Tor war.“ Genau das wirft „Brych-Vorgänger“ Hans-Joachim Osmers (Bremen), der 1994 in einer ähnlichen Situation einen Treffer für Bayern München gegen den 1. FC Nürnberg und damit das erste Phantom-Tor der Bundesliga-Historie gegeben hatte, Kießling vor. „Für mich hat Kießling ganz klar erkannt, dass der Ball nicht ins Tor gegangen ist. Da wäre Fair Play Kießlings Pflicht und Schuldigkeit gewesen. Er hätte es sagen müssen. Brych hätte die Unterstützung von Kießling und anderen Spielern gebraucht, die auch gesehen haben, dass es kein Tor war. Aber da sieht man, dass die ganzen Fair-Play-Kampagnen der Verbände wohl nichts wert sind“, sagte Osmers dem SID.

Kießling, der sich tatsächlich schon enttäuscht abgedreht und erst später den Torschützen gemimt hatte, rechtfertigte sein Verhalten via Facebook: „Im Spiel habe ich nach meinem Kopfball und dem Drehen des Kopfes nicht genau gesehen, ob der Ball korrekt ins Tor gegangen ist oder nicht. Irgendwie lag der Ball im Tor. Genau das habe ich auch dem Schiedsrichter gesagt. So zu gewinnen, ist natürlich nicht schön. Fairness ist wichtig für den Sport, bei uns im Verein und für mich ganz persönlich.“

Thomas Helmer, der Phantom-Torschütze von München 1994, zeigte Verständnis für den Bayer-Torjäger. „Es geht um Sekunden, und du weißt als Schütze selbst nicht so genau, ob er drin war. Kießling wird auch überlegt haben: Was mach' ich jetzt, was ist passiert. Und diese Sekunden entscheiden darüber, bist du jetzt der liebe Junge oder der böse Bube“, erklärte Helmer bei Sport1.

Der DFB kontaktierte unterdessen zur grundsätzlichen Auslotung seiner juristischen Spielräume schon den Weltverband FIFA. „Dass ein solches Phantom-Tor als ungerecht empfunden wird, können wir alle absolut nachvollziehen“, sagte der zuständige DFB-Vize Rainer Koch: „Der reflexartige Ruf nach einer Wiederholung des Spiels ist verständlich, aber wir wissen aus der Vergangenheit auch, wie sehr die FIFA die Tatsachenentscheidung eines Schiedsrichters schützt. Entscheidend ist für uns, welche Möglichkeiten uns die sportrechtlichen Statuten und Vorgaben überhaupt geben, denn letztlich ist die FIFA bei einer solchen Entscheidung maßgeblich.“

1994 hatte die FIFA den DFB wegen der Annullierung der Münchner Begegnung scharf kritisiert. Auch deswegen verwies Geschäftsführer Andreas Rettig von der Deutschen Fußball Liga (DFL) auf den beinahe tabu-ähnlichen Stellenwert der Tatsachenentscheidung. „Das ist ein Spagat, aber am Ende sind wir nicht im luftleeren Raum. Statuten bereiten hier und da auch Bauchschmerzen“, sagte Rettig bei Sky und lenkte den Blick auch auf Leverkusen: „Es ist ein hohes Maß an Ungerechtigkeit da. Aber auch Leverkusen hätte bei einer Neuansetzung Grund zum Klagen: Sie führten mit 1:0 in der 70. Minute und würden dann wieder auf 0:0 gestellt - auch das muss man berücksichtigen.“

Dennoch erhoffen Helmer und der frühere Weltschiedsrichter Markus Merk (Kaiserslautern) eine Neuansetzung für Hoffenheim. „Die Tatsachenentscheidung schützt den Fußball und schützt auch oft den Schiedsrichter. Aber ich bin Fußballer mit Leib und Seele, und ich ich war und bin immer für Gerechtigkeit im Fußball. Für mich kann es nur eine Entscheidung geben: Wiederholungsspiel“, sagte der Sky-Experte. In der Diskussion über Torlinien-Technologie positionierte sich Schiedsrichter-Chef Herbert Fandel (Kyllburg) eindeutig: „Ich habe immer gesagt, dass wir dafür sind, weil sie unsere Arbeit unterstützt. Sie muss aber hundertprozentig funktionieren.“

Die Deutsche Fußball Liga (DFL) hatte erst vor wenigen Wochen die Zulassung technischer Hilfen bei Torentscheidungen frühestens für 2015 in Aussicht gestellt. Entsprechendes Gerät jedoch wäre beim Torlinientechnik-Lieferanten für den vergangenen Confed-Cup und die bevorstehende WM-Endrunde 2014 in Brasilien schon vorhanden. „Unser Torliniensystem überwacht die Torlinie vollständig zwischen beiden Pfosten und der Latte. Nur wenn der Ball durch diesen virtuellen Vorhang von vorne - also nicht durch ein Außennetz von der Seite - ins Tor kommt, wird dem Schiedsrichter dies klar als Treffer an seine Spezialuhr gesendet und dort angezeigt. Ein sogenanntes Phantomtor ist bei GoalControl- 4D daher absolut nicht möglich“, sagte Geschäftsführer Dirk Broichhausen von der Würselener Firma GoalControl.