Der frühere Mittelgewichts-Boxweltmeister Felix Sturm will sich an diesem Sonnabend in Dortmund gegen Predrag Radosevic zurückmelden. Im Interview erklärt der 34-Jährige, warum er sich dafür neu erfinden musste.

Köln. Felix Sturm steht an diesem Sonnabend (22.35 Uhr/Sat.1) wieder einmal vor einem Alles-oder-nichts-Kampf. Verliert der Mittelgewichts-Boxprofi in der Dortmunder Westfalenhalle gegen den in 27 Kämpfen unbesiegten Montenegriner Predrag Radosevic, 28, dann dürfte die Chance auf einen baldigen WM-Kampf ebenso schrumpfen wie die Geduld seines TV-Exklusivpartners Sat.1. Der 34-Jährige weiß das, aber er will sich von derlei Gedanken nicht aus der Ruhe bringen lassen. Vielmehr soll der 6. Juli 2013 einen Neustart in seinem Leben markieren.

Hamburger Abendblatt: Herr Sturm, Sie haben angekündigt, in Dortmund runderneuert anzutreten, Sturm 2.0 quasi. Warum muss man sich im Alter von 34 Jahren noch einmal neu erfinden?

Felix Sturm: Ich bin grundsätzlich der Meinung, dass man sich stetig weiterentwickeln muss, ohne Rücksicht auf Alter oder Status. Wer stehen bleibt, der hat verloren. Mein Problem war, dass ich nicht nur stehen geblieben bin, sondern festgewachsen war. Und an dieser Situation musste ich dringend Grundlegendes verändern. Deshalb habe ich eine 180-Grad-Wendung gemacht.

Schildern Sie doch bitte, was Sie zu dieser Erkenntnis gebracht hat.

Sturm: Nach meinem letzten Kampf gegen den Australier Sam Soliman im Februar war ich in allen Belangen unzufrieden. Ich habe in dem Kampf nicht einmal zehn Prozent von dem gebracht, was ich im Training drauf hatte. Normalerweise bin ich im Kampf 20 Prozent besser als im Training. Nachdem ich Soliman in der zweiten Runde am Boden hatte, dachte ich, ich muss nichts mehr tun, und habe komplett meine Linie verloren. Er hätte gegen mich niemals über die Runden kommen dürfen. Stattdessen habe ich ihn aufgebaut. Es war der schlechteste Kampf meiner Profikarriere.

Mit Verlaub, es gab schon schlechtere Kämpfe von Ihnen. Immerhin war Soliman gedopt, und die Punktniederlage, die daraufhin in ein „No Contest“ umgewertet wurde, war ungerechtfertigt.

Sturm: Das ändert nichts daran, dass ich mit mir total unzufrieden war. Ich bin anschließend sehr hart mit mir ins Gericht gegangen, habe alles analysiert und hatte dann zwei Möglichkeiten: Entweder ich ändere meinen gesamten Lebenswandel, oder ich höre auf. Und aufhören kam nicht infrage.

Was haben Sie sich denn vorgeworfen?

Sturm: Das waren mehrere Dinge. Erstens: Ich habe mich zu sehr auf mein Talent verlassen und habe deshalb angefangen, Gegner zu unterschätzen, was man niemals machen sollte. Ich habe mich zu lange auf meinen Erfolgen und dem Hype, der teilweise um mich herum war, ausgeruht und viel zu oft in die Vergangenheit geblickt. Damit habe ich abgeschlossen. Was war, ist vorbei. Ich muss mich neu beweisen.

Dabei galten Sie immer als Trainingsweltmeister, Ihre Trainer haben das vor jedem Kampf bestätigt.

Sturm: Das mag ja sein. Aber man kann hart trainieren und trotzdem vergessen, den Kopf einzuschalten. Ich habe mich einfach nicht mehr auf das konzentriert, was mich in meiner Anfangszeit ausgemacht hat, das schnelle, technisch saubere Boxen. Man kann sagen, dass ich mich auf meinem Weg selbst verloren habe, mich und den Blick für das Wesentliche. Und das habe ich nun verändert.

Was ist denn das Wesentliche?

Sturm: Das Boxen! Ich habe als mein eigener Chef einfach viel zu viel anderes im Kopf gehabt. Boxen ist zu einem Teil Geschäft, aber ich habe mich irgendwann nur noch aufs Geschäft konzentriert. Ich wollte mich um alles kümmern, um die Gegnerauswahl, um die Hallen, um die Promigäste. Das konnte nicht gutgehen. Jetzt habe ich es geschafft, dass ich meinem Team absolut vertraue. Ich bin zwar in alle Sachen eingeweiht, aber ich lasse die anderen machen und konzentriere mich nur auf das Boxen. Mein Telefon ist beispielsweise an 90 Prozent des Tages ausgeschaltet. Das gab es früher nicht.

Es heißt, Sie lassen bisweilen nicht einmal mehr Ihre Trainingspartner zuschauen, wenn Sie selbst trainieren.

Sturm: Das stimmt, wenn ich trainiere, dann müssen alle anderen raus. Ich brauche einfach diese absolute Ruhe, nur mein Trainer Fritz Sdunek und ich, das ist das Beste für mich. Da finde ich wieder zu mir und zu meiner Stärke von einst.

Es fällt auf, dass Sie bereits Wochen vor dem Kampf Ihr Kampfgewicht hatten. Früher kamen Sie mit 15 Kilogramm Übergewicht ins Camp. War das auch so ein Punkt, den Sie ändern wollten?

Sturm: Auf jeden Fall. Das war absolut unprofessionell, dass ich jahrelang zwischen den Kämpfen nicht auf mich geachtet habe. Ich habe mich gehen lassen, habe teils unkontrolliert gefressen und dachte immer, das kriege ich in der Vorbereitung mit hartem Training schon wieder runter. War ja auch so, aber der Substanzverlust war zu hoch, was sich in den Kämpfen negativ bemerkbar gemacht hat. Ich bin da immer in eine lethargische Phase reingerutscht, und das war Schwachsinn. Vor diesem Kampf hatte ich sehr früh mein Kampfgewicht, weil ich mich bewusst ernährt habe und immer in Bewegung war. Das habe ich nun gelernt, dass ich immer aktiv sein muss. Das will ich auch nach meiner Karriere beherzigen. Der Basketball-Superstar Kobe Bryant wirft jeden Tag 600 Bälle, egal ob er in der Saison ist oder im Urlaub. So professionell muss ich mich endlich auch verhalten.

Diese Erkenntnis kommt spät, das Gewicht war doch seit Jahren ein Thema, Sie haben immer negiert, dass es Sie belastet. Ärgern Sie sich jetzt, dass Sie nicht schon vor Jahren diesen Wandel eingeleitet haben?

Sturm: Ich habe aufgehört, mich an Vergangenem zu ärgern. Dieses dauernde Hätte, Hätte, Hätte bringt mich nicht weiter. Fakt ist: Ich fühle mich körperlich wie 27, 28, ich habe ein viel besseres Körpergefühl. Ich habe jetzt einen Physiotherapeuten, der mich viermal in der Woche behandelt. Stretching, Massage, solche Dinge hatte ich auch schleifen lassen. Boxerisch lief es vom ersten Tag an auch besser als sonst, weil ich nicht mehr trainiert habe, um mein Kampfgewicht zu erreichen, sondern nur noch für den Sieg. Deshalb bin ich sehr froh, dass ich erkannt habe, was ich ändern muss, auch wenn es viele Besserwisser gibt, die nun sagen: Das haben wir doch schon immer gesagt. Ich glaube, dass es große Champions auszeichnet, wenn sie sich auch mit 34 noch entwickeln.

Wer hat Ihnen denn bei dem Prozess der Wandlung geholfen?

Sturm: In erster Linie habe ich sie durch knallhartes Hinterfragen gewonnen. Ich habe viel gelesen, mich komplett abgeschottet. Aber mein Trainer und meine Frau haben mir auch sehr geholfen, weil sie absolut offen gesagt haben, was gut war und was nicht. Ich habe vielleicht eine Handvoll Freunde, die mir wirklich helfen. 95 Prozent der Ratschläge, die ich bekomme, nehme ich nicht ernst, weil sie von Leuten kommen, die keine Ahnung haben.

Nun stehen Sie in Dortmund wieder einmal am Scheideweg. Ein Sieg gegen Radosevic bringt Sie Richtung WM-Chance, eine Pleite könnte das Ende sein.

Sturm: Das Ende wäre sie nicht, wohl aber ein harter Rückschlag. Doch daran denke ich nicht. Ich werde Radosevic dominieren und deutlich besiegen. Und was dann kommt, werden wir dann sehen. Ich plane nicht mehr weit in die Zukunft, weil ich weiß, wie schnell Pläne über den Haufen geworfen werden.

Haben Sie denn diesmal für die richtigen Punktrichter gesorgt? Zuletzt hieß es, Ihre mangelhaften Kontakte zu den Weltverbänden würden Ihnen und den anderen Boxern in Ihrem Stall schaden.

Sturm: Das ist Unsinn. Ich hatte zuletzt mehrfach Punkturteile kritisiert, weil sie einfach falsch waren. Das haben mir viele Experten bestätigt. Ich habe bei den Verbänden mein Standing, die wissen aber auch, dass ich immer den Mund aufmachen werde, wenn etwas falsch läuft. Was den Einfluss auf Punktrichter angeht: Selbst so ein großer Stall wie Sauerland hat vor kurzem mit Jack Culcay erlebt, dass man Kämpfe verlieren kann, obwohl man sie eigentlich gewonnen hat. In die Köpfe mancher Punktrichter kann man nicht reinschauen. Deshalb ist das Einzige, was wirklich wirkt, dass man den Gegner nicht an sich herankommen lässt und ihn so oft trifft, dass es keine zwei Meinungen geben kann.

Tatsächlich scheint Aktivität derzeit höher bewertet zu werden als die Zahl der richtigen Treffer. Das ist für technische Boxer wie Sie ein Nachteil.

Sturm: Auch die Meinung teile ich nicht. Jeder Punktrichter ist anders. Culcay hat auch viel geschlagen in seinem letzten Kampf, und er hat trotzdem verloren. Nein, man muss einfach zusehen, dass man den Kampf so klar wie möglich gestaltet, und dann braucht man Glück, dass die Punktrichter es auch so gesehen haben.

Ihr TV-Partner Sat.1 hat kürzlich einen Vertrag mit Supermittelgewichts-Weltmeister Robert Stieglitz vom Magdeburger SES-Stall abgeschlossen. Ist das ein Schuss vor den Bug für Sie, ein Zeichen, dass Sat.1 auch ohne Sie als Zugpferd weitermachen würde?

Sturm: Nein, im Gegenteil. Es ist ein Zeichen dafür, dass Sat.1 auf Sport allgemein und auf Boxen im Besonderen setzt. Das finde ich sehr positiv. Robert ist der Ersatz für die Kickboxerin Christine Theiss, die Ende des Jahres aufhört. Und ganz nebenbei: Vielleicht erhöht dieser Deal ja die Chancen, dass es zum Kampf Sturm gegen Stieglitz kommt. Das ist einfacher, wenn zwei Boxer denselben TV-Partner haben. Doch das ist Zukunftsmusik, jetzt zählt erst einmal nur Radosevic.

Trotz seines Rekords von 27 Siegen aus 27 Kämpfen gehört der nicht zur Garde der Weltklasse. Was können Sie sich denn mit einem Sieg gegen ihn tatsächlich beweisen?

Sturm: Dass an meiner Gegnerwahl herumgemäkelt wird, kenne ich ja schon. Die Briten Martin Murray und Matthew Macklin kannte auch niemand, bevor ich sie besiegt habe, und jetzt stehen sie in den Ranglisten oben und kämpfen um die WM. Radosevic ist ein hungriger, gefährlicher Mann, den ich absolut ernst nehme.

Immerhin ist der Kampf in Bosnien, der Heimat Ihrer Eltern, und Montenegro ein Riesenthema. Wie steht es um das Verhältnis der beiden Länder? Erwartet uns eine hitzige Atmosphäre in der Halle?

Sturm: Das könnte schon sein, es werden eine Menge Fans aus beiden Ländern kommen. Aber ich hoffe und glaube, dass sich alles in friedlichen Grenzen halten wird. Die beiden Länder leben in friedlicher Koexistenz, es gibt keine Spannungen mehr. Der Krieg in der Region ist seit 1995 vorbei, er ist nicht vergessen, aber vieles ist verziehen. Die Menschen haben begriffen, dass der Krieg nur Verlierer hatte. Und aufs Verlieren hat niemand Lust, da bin ich nicht allein.