Box-Legende: Heute würde der große Deutsche 100 Jahre alt - ein Freund schildert ihn, wie ihn kaum jemand kennt. Als leidenschaftlicher Jäger zeigte er sich nur Freunden. Im Geschäft konnte er einen Pfennig halbieren, den Bedürftigen aber gab er mit vollen Händen. Für das Abendblatt schrieb sein Freund, der Journalist Horst Vetten, das besondere Porträt.

Unterammergau. Einmal schlenderten wir durch den verwunschenen Park der Schmelings. Da flog vor uns ein Strich Wildenten auf. Max riß eine imaginäre Flinte an die Wange und rief laut: "Paff." Und noch einmal: "Paff." "Hast du sie?" fragte Any Ondra, die damals schon seit 35 Jahren im Schmeling-Stück die zweite Rolle gab.

"Ja", versetzte Max gleichmütig. Keine Frage, er hatte die Enten. Zwar lügen Jäger ebensoviel wie Flieger und Fischer. Aber Max war kein Jägersmann fürs Latein. Hätte er die Enten nicht gehabt, so würde er die Erklärung gleich mitgeliefert haben: zu weit vorgehalten oder zu dick drauf. Wenn es irgend ging, machte er sich klein. Sogar sein Autogramm schrieb er klein.

Den Jäger zeigte er sowieso nur Freunden. Die Fotoarchive quellen über von Max-mit-Any-Motiven (schon weil er die ehemalige Leinwandschönheit so gerne vorzeigte - Graf-Agassi-Effekt der früheren Jahre). Im grünen Rock aber mied er die Fotografen. Das Trophäenhaus im Park von Hollenstedt bei Hamburg überragt sogar die weiße Kleinvilla. Was da an Keilerköpfen, Bärenschädeln und Hirschknochen von den Wänden grinst, kündet in dieser Fülle, in welchen Jagdgründen es der Waidmann Schmeling überall hat krachen lassen: worldwide.

Nur wenige sahen die Ausbeute eines langen Jägerlebens. Schmeling achtete stets penibel auf seine Außenwirkung. Dazu, fand er, paßte auf keinen Fall das Bild eines Mannes, der Tierchen totschießt.

Vieles, im nachhinein betrachtet fast alles, wirkt in Schmelings Leben wie geplant, inszeniert und drehbuchartig. Seine Lebensdaten fügen sich deckungsgleich in dieses 20. Jahrhundert - im Bösen wie im Guten. Ähnlich dem Siebziger Grass hätte der Neunziger Schmeling ein Opus hinterlassen können: "Mein Jahrhundert" - bloß 20 Jahre mehr. In den 20er Jahren ein erster deutscher Sieger in der Finsternis nach Weltkrieg I, Versailles, Inflation, Massenarbeitslosigkeit. In den 30ern ein Weltmeister gar, den die Braunen als den Ihren vereinnahmten und bejubelten. Trutziger Fallschirmspringer über Kreta für Volk und Vaterland.

In den 50ern endlich, als alles zu siegen begann, siegte er allen voran. Bis ins biblische Alter blieb er unser aller Maxe. Die Schnulze, die keine war, bekam sogar ihr Happy End, das jeder Hollywood-Produzent aus dem Drehbuch gestrichen hätte: Max, 85jährig, erlebte die Rückkehr der uckermärkischen Heimat ins vereinigte Vaterland. Ein starkes Deutschland in seinem Jahrhundert mit einem Dutzend Staatsoberhäuptern, ein Kaiser inklusive.

"Max Schmeling schwamm wie ein Sektkorken immer oben", schrieb ich einmal zu einem seiner runden Geburtstage. (Seit er 60 wurde, war alle fünf Jahre eine Würdigung fällig; und wer will bei sich schon alle fünf Jahre aufs neue abschreiben).

"Hübsch formuliert", blubberte er bei unserem nächsten Treffen, "aber 'n büschen salopp, nich'?" Forschender Blick unter den schwarzen Augenbrauen hervor. "Immerhin: Geht doch um 'nen älter'n Herrn, nich'?" Noch ein Forschungsblick: Ironie angekommen?

Ironie, vor allem Selbstironie, gehörte zu den Gaben, mit denen er gerne spielte. Er schätzte es, wenn der Partner kapierte und mitspielte. War das nicht so, spielte er den Part allein und fand dann unverfälschte Schmeling-Schnurre in den Gazetten. In den vielen tausend Interviews, in denen er vieltausendmal dasselbe gefragt wurde, entwickelte er eine von niemandem je erreichte Technik, nur das zu sagen, was der Frager sowieso hören wollte.

Max Schmeling hat es meisterlich verstanden, jedem wohl und niemandem wehe zu tun. Noch als er mit seiner Any, dem Filmstar der 20er und 30er Jahre, bei Guglhupf in Adolf Hitlers Reichskanzlei saß, fand er so behutsame Worte für seinen jüdischen Manager Joe Jacobs, daß sogar der Judenhasser nicht muckte. Den Vorwurf stillschweigender Kumpanei mit den Nazis blubberte Schmeling gebetsmühlenartig mit Allgemeinplätzen beiseite, er sei immer nur Sportler und nichts als Sportler gewesen. Daß er zu Kriegszeiten Juden in seiner Wohnung versteckt hielt, kam erst 45 Jahre nach dem Krieg zutage, als er dafür in Las Vegas mit einer Medaille ausgezeichnet wurde.

Dies und so manches andere hat er auch seinen Freunden verschwiegen. Jene, die ahnten oder wußten, daß Schmeling auch noch ein zweites, nichtöffentliches Gesicht hatte, nahm er gerne ins Boot. "Manchmal frage ich mich, ob Sie sich gerade selbst darstellen oder ob dieser makellose, edelherzige, gutartige Schmeling eine Originalausgabe ist", sagte ich gelegentlich.

"Wie'n Neufundländer, nich'wah '. . . ", schnaufte er.

Mit Ironie entwand er sich aus solchen Situationen. Kam die Rede auf Geld, hatte er seine berühmteste Stanze zur Hand: "Geld gibt man nicht aus." Im Geschäft konnte er einen Pfennig halbieren; Bedürftigen gab er mit vollen Händen.

Einmal habe ich mir ein Herz gefaßt und gefragt: "Was wird aus Ihrem Geld und dem Besitz, wenn Sie einmal nicht mehr sind?" Schmeling wich zu meiner und auch zur offenbaren Verwunderung Any Ondras nicht per Sidestep aus, wie er das schon tausend- und abertausendmal getan hatte, sondern er erklärte mit fester und ausnahmsweise nicht vernuschelter Stimme: "Kriegt alles das SOS-Kinderdorf." (Später hat er eine Max-Schmeling-Stiftung eingerichtet. Dem Geschäftsmann Schmeling war das Wort "Diversifikation" geläufig, warum also nicht auch dem Wohltäter?)

Als Max Schmeling 1905 geboren wurde, schrieb Heinrich Mann an seinem "Professor Unrat", veröffentlichte Christian Morgenstern seine "Galgenlieder", und die "Lustige Witwe" hatte Premiere. Als der End-Teenager Max seinen ersten Profikampf bestritt, regierte in Köln ein vergleichsweise jugendlicher Oberbürgermeister namens Konrad Adenauer, in Berlin freute sich ein Jungmime namens Heinz Rühmann über das allererste Engagement, und in einem niederländischen Provinznest zerlegte der letzte deutsche Kaiser immerzu dicke Holzkloben.

So muß man Maxens Lebensweg betrachten, wenn man ihn als deckungsgleich mit dem deutschen Jahrhundert sieht. Schmelings historische Auftritte gipfelten im hochgejazzten Prestigekampf gegen den (bis dahin unbesiegten) "Braunen Bomber" Joe Louis am 19. Juni 1936. Dieses Datum liegt ungefähr auf halber Höhe zwischen der "Befreiung des Rheinlandes" und dem "Heimholen Österreichs" ins "Großdeutsche Reich". Mit dieser Einordnung erfährt das Ereignis auch den politischen, publizistischen und propagandistischen Stellenwert jener Tage.

Hier ging es nicht einfach um eine Boxerei. Der Boxkampf zwischen dem farbigen Amerikaner und dem Europäer aus dem Naziland war für Millionen hüben und drüben jeweils ein nationaler Kraftakt, Probe und Gegenprobe für die angebliche Überlegenheit des nicht nur weißen, sondern auch noch arischen Herrenmenschen. Nazi-Propaganda und amerikanisches Ballyhoo machten aus dem Fight einen auf zwei Personen beschränkten Kriegsersatz. Amerika gegen Deutschland, die freie Welt gegen das Naziregime, Schwarz gegen weiß. Als der Kampf wegen strömenden Regens um einen Tag verschoben werden mußte, erschien ein New Yorker Boulevardblatt mit der Zeile: "Die Hinrichtung des Maximilian Siegfried Otto Adolf Schmeling findet einen Tag später statt."

Diese Begleitgeräusche und der triumphale Sieg haben Max Schmeling bereits zu Lebzeiten zum Denkmal seiner selbst gemacht. Wenn er auch nur um den eigenen Ruhm und eine gute Börse kämpfte - die Nazis krakeelten, er tue es für Deutschland. Die Gegenpropaganda bellte, Schmeling, selbst Nazi, boxe für die Nazis. So mußte Schmeling zum Siegfried der Nation geraten. Folgerichtig wurde er zum Leitbild für ein Volk, dem Helden stets etwas bedeutet haben. Gerade mit Helden aber war das Land nach dem ersten Weltkrieg unterversorgt. In einer Zeit, da der Diktator nach Vergeltung für Verdun und Versailles schrie, hatte eine Figur wie Max Schmeling alle Bestandteile eines Helden. Millionen projizierten sich in die Siegerfigur hinein und siegten mit, wenn er siegte.

In eine andere Welt hineingeboren, wäre der Boxer Schmeling auch eine Ausnahmeerscheinung gewesen. Aber niemals in diesen gesellschaftlichen und politischen Dimensionen. Schmeling schüttelte in den 30er Jahren Präsident Roosevelt die Hand. Der legendäre Chirurg Ferdinand Sauerbruch rief ihn "Maxe". Der Räuberhauptmann Al Capone saß als glühender Verehrer zu seinen Füßen. Ringelnatz widmete ihm Verse. Das war in den Zwanzigern. 60 Jahre später gibt ein deutscher Bundespräsident dem 85jährigen eine Geburtstagsparty. Unter den von Schmeling ausgewählten Gästen ein 86jähriger Heinz Rühmann und ein 45jähriger Franz Beckenbauer. Der hat seine ersten Bolzversuche unternommen, da gürtete Schmeling gerade mit 43 ein allerletztes Mal die Lenden zum allerletzten Kampf um Geld.

Nicht nur nationalpsychologische und sportliche Wirkung haben Max Schmeling zu einem deutschen Symbol in einem deutschen Jahrhundert werden lassen. An ihm verwirklichte sich auch die Wunschvorstellung, daß es einer "mit eigenen Fäusten" schaffen kann. Daß sich einer ganz nach oben "durchboxen", daß aus einem kleinen Mann ein großer, daß ein Armer reich werden kann, daß es Tellerwäscher-Karrieren gibt.

Schmeling kam aus kleinbürgerlichen Verhältnissen in der Uckermark, besuchte die Volksschule, lernte Kaufmann und boxte nebenher aus Spaß. Die Profilaufbahn führte über den Ruhm zum Reichtum, von dem der größere Teil nach dem Krieg verlorenging: Seine Latifundien lagen im Osten. Nach dem Krieg schaffte er es noch einmal zum Millionär. Da half ihm sein Ruf in Amerika. Die Weltmacht Coca Cola suchte in Deutschland vorzeigbare Ambassadeure, und ihr Blick fiel auf den "schwarzen Ulan". Der hatte einen tadellosen Ruf, eckte nirgends an, und negative Schlagzeilen über ihn hatte noch niemand gesehen. Ein Reporter fragte ihn, ob es denn gar nichts an diesem makellosen Standbild zu kratzen gebe.

Schmeling antwortete, natürlich mit einer für ihn positiven Schnurre: In Köln sei er einmal ausgeflippt. Zwei Kohlenkutscher hätten mit den Peitschen auf zwei Kinder eingeschlagen, weil sie sich an den Karren gehängt hatten. Da sei er nachgelaufen und habe "einmal links und einmal rechts gehauen, zufälligerweise auch getroffen, und die beiden fielen um . . . ".

Reporter: "Sind die zwei noch vor neun wieder aufgestanden?"

Schmeling: "Sie haben etwas länger gelegen."

Dieser Wesenszug begegnet dem Schmeling-Forscher immer wieder. Der Mann hat sich - abgesehen von seinen Auftritten im Ring - niemals mit jemandem angelegt. So ist er auf angeborene oder einstudierte Weise "everybodys Max" geblieben. Das reicht von seinem Äußeren bis zu seinen Äußerungen. Oberflächliche Betrachter sehen gerne den guten Kerl in der groben Schale. Was diese betrifft, ist sie nicht rauh. Vielmehr hat es sein Schneider verstanden, die Anzüge immer so herzurichten, daß sie auch im englischen Oberhaus als getragen durchgegangen wären. Nie hat Max eine schrille Krawatte getragen. Selten ging er ohne Hut. Stets war sein Schuhzeug vom Besten, aber ländlich in der Wirkung.

Der Mann hat seinen Lebenskampf haushoch nach Punkten gewonnen. Zwar war er ein ganzer Kerl, aber den Sidestep hat er der Attacke immer vorgezogen. Der Boxkundige weiß, daß der Kämpfer am sichersten ist, wenn er Fuß bei Fuß zum Gegner steht, am allerbesten im Clinch. Da kann ihm am wenigsten passieren. Diese Kampftaktik, in der sich zwei sozusagen umarmen, wandte Max auch privat und geschäftlich an. Er nahm freundlich in den Clinch, wer sich ihm näherte. Wer wollte sich der Umarmung entziehen? So entstand sein Bild vom Neufundländer: riesengroß und grimmig scheinbar, aber harmlos und gutartig.

Als 43jähriger hat er zum letzten Mal geboxt und den wesentlich jüngeren Riedel Vogt im 10-Runden-Kampf nach Punkten besiegt. Noch in der Arena erklärte er seinen endgültigen Rücktritt. Gerührt erhob sich das Publikum zum vermeintlichen Abschied. Wer wollte vor 50 Jahren schon ahnen, daß es für diesen Mann keinen Abschied geben würde? Es haben ihn die Zeitläufte zu einem starken Stück deutscher Geschichte gemacht.

  • Zum Hören: Die packende Schmeling-Biographie "Das Herz eines Boxers" finden Sie zum Herunterladen in der Abendblatt-Audiothek