Bis zum 10. Januar stellen wir in jeder Ausgabe einen möglichen Kandidaten vor. Heute: Desireé Christiansen, Vize-Europameisterin im Karate.

Hamburg. Selbst im Training passiert es. Mit einem kurzen Lächeln nimmt Desireé Christiansen die Anweisungen ihres Trainers entgegen, dann entschwindet sie. Taucht ein in ihre Welt höchster Anspannung und Konzentration und schaltet die Umgebung für einen kurzen Moment aus. "Wenn ich kämpfe, nehme ich nichts wahr, dann bin ich im Tunnel", sagt die 19-Jährige. Das gilt vor allem für den Wettkampf, aber auch im Trainingsraum, dem Dojo, schaltet die Karatekämpferin ab - und hängt sich voll rein. "Ich und mein jeweiliger Trainingspartner, wir müssen beide hochkonzentriert sein und alles geben. Sonst lerne ich nichts."

Ihr Trainingsfleiß und die Leidenschaft für Karate haben ihr viele Erfolge eingebracht. Desireé Christiansen ist mehrfache deutsche Meisterin im Kumite, dem Karate-Zweikampf. 2009 startete die Athletin von der TSG Bergedorf erstmals bei einer Europameisterschaft der Erwachsenen, Gewichtsklasse bis 50 kg - und holte den Vize-Titel.

"Klar bin ich da stolz drauf", sagt sie, "aber ich darf mich auf dem Erfolg nicht ausruhen." 2010 will sie wieder angreifen und möglichst auch das EM-Finale gewinnen. Das absolute Highlight sind allerdings die Weltmeisterschaften im Oktober in Italien. Das Problem: Die gebürtige Rostockerin muss auch noch ihr Abitur schreiben. Sie lächelt fröhlich und schiebt das Problem mit einer Handbewegung von sich. "Ich brauche den Stress. Sonst kann ich keine Leistung bringen. Das gilt sowohl in der Schule als auch beim Karate."

Ihr Trainer Ibo Günes hat das schnell begriffen. Der 38-Jährige erkannte ihr Talent sofort, als sie im Alter von sechs Jahren zu ihm kam. Ihr Vater, selbst Ringer, hatte seine Tochter zum Karate geschickt, damit sie ein selbstbewusstes Mädchen wird. Es hat geholfen. "Selbstsicherheit und Überzeugung, ein gewisser Egoismus, das macht viel aus im Karate", sagt Trainer Günes. "Ich habe ihre Bewegungsabläufe, ihre Haltung gesehen und ihr Potenzial gleich erkannt. Aber Talent allein reicht nicht. Es gehört hartes Training dazu."

In der Wettkampf-Vorbereitung trainiert Christiansen zwei Mal am Tag. Morgens um sechs vor der Schule und nachmittags. Einmal im Monat fährt sie nach Duisburg, um am Training des Bundeskaders teilzunehmen. Dort stehen sogar drei Einheiten auf dem Programm. Zu viel wird es der Hamburgerin nie. "Karate ist alles für mich. Ich kann mich verwirklichen, kann abschalten und alles andere für einen Moment vergessen."

Dabei verläuft ihr Privatleben in geregelten Bahnen. Seit fünf Jahren hat sie einen festen Freund, sie geht gerne essen und shoppen, manchmal auch auf eine Party oder in die Disko. Aber an erster Stelle steht immer das Training in der Budo-Kampfsport-Akademie in einem Hinterhof in Bergedorf. Denn Desireé Christiansen weiß, was sie dieses Jahr erwartet. "Die Seniorenklasse ist viel härter. Die Techniken werden präziser und viel schneller ausgeführt", sagt sie. Doch die Herausforderung weckt nur ihren Ehrgeiz. Deshalb schnallt sie sich immer wieder die Handschuhe und die Fußschoner um, macht Liegestütze und Sit-ups, wirbelt mit Fäusten und Füßen durch die Luft und entschwindet zwischendurch in ihren Tunnel.