Besiegt der Ukrainer den Nigerianer, sind die Klitschkos als erstes Brüderpaar der Geschichte zeitgleich Champions.

Hamburg/Berlin. Er hat sie oft gehört in den vergangenen Tagen und Wochen, hunderte Male wohl. Und weil Vitali Klitschko ein höflicher Mensch ist, hat er sie immer wieder identisch beantwortet, diese Frage nach dem Grund für seine Rückkehr in den Boxring nach 1400 Tagen Pause, die viele zwar als das "Comeback des Jahres" betiteln, die für den 37 Jahre alten Ukrainer jedoch keine Rückkehr ist. Weil er, wie er sagt, nur pausiert hat, um den Geschäftsbetrieb im Berufsboxen nicht zu behindern. Und allen, die gefragt haben, hat er deshalb dieses Mantra vorgebetet, diese Geschichte vom Geschichteschreiben, von dem Traum, den er und sein fünf Jahre jüngerer Bruder Wladimir seit dem Beginn ihrer Berufsbox-Karrieren im Jahr 1996 hegen: zeitgleich als erstes Brüderpaar der Faustkampf-Historie Weltmeister zu sein.

Am heutigen Sonnabend kann dieser Traum in der Berliner O2-World tatsächlich in Erfüllung gehen. Wladimir Klitschko ist aktueller Champion der Weltverbände WBO und IBF, und wenn Vitali WBC-Titelinhaber Samuel Peter (28, Nigeria) bezwingt, den er dank dem von WBC-Präsident Jose Sulaiman verliehenen Sonderstatus "Champion Eremitus" ohne Aufbaukampf herausfordern kann, darf er sich den Gürtel umschnallen, den er im Herbst 2005 niedergelegt hatte - genervt von einem Knieschaden und den chronischen Leiden, die seinen von 20 Jahren Leistungs-Kampfsport ausgezehrten Körper niedergerungen hatten.

Unvergessen ist denen, die dabei sein durften, der Abschied des 2,02-Meter-Hünen, als dieser Ende November 2005 im Restaurant "Minas" in Wandsbek eine emotionale Dankesrede hielt und mit den Worten schloss: "Wille und Kraft sind noch da, aber leider spielt mein Körper nicht mehr mit." Eine schwere Schulterblessur, einen Bandscheibenvorfall, einen weiteren Knieschaden und diverse kleinere Verletzungen hatte er da hinter sich gebracht, und es gab zu diesem Zeitpunkt wohl niemanden, der mit einem Comeback gerechnet hätte - außer Vitali Klitschko selbst. Er trainierte nach seiner Genesung fast täglich, obwohl ihm sein neues Alltagsgeschäft als Politiker und Mitglied des Organisationskomitees für die Fußball-EM 2012 in seiner Heimat Ukraine kaum Zeit ließ. Er blieb in regem Kontakt mit seinem Hamburger Trainer Fritz Sdunek, und als sich im vergangenen Herbst die Chance zur Rückkehr bot, wollte er zugreifen, doch es folgte der nächste Rückschlag. Drei Wochen vor dem geplanten Comeback-Kampf gegen den US-Amerikaner Jameel McCline erlitt er im Trainingslager im österreichischen Going erneut einen Bandscheibenvorfall. Der große Traum schien endgültig ausgeträumt.

Doch der Ehrgeiz des dreifachen Vaters, dessen Familie ihren Lebensmittelpunkt nach wie vor in Hamburg hat, aber am Wochenende die Präsidenten-Suite im Berliner Maritim-Hotel mit ihm teilt, war nun umso heftiger entflammt. "Gewissenhaft wie nie" (Sdunek) arbeitete er in der anschließenden Therapie, und weil die Erfolge sich einstellten und er sich körperlich "so frisch wie lange nicht" fühlt, steigt er nun fast vier Jahre nach seinem letzten Kampf, einem K.-o.-Sieg über den Briten Danny Williams im Dezember 2004 in Las Vegas, wieder in den Ring.

Es wird sportlich keine Überraschungen geben. Klitschko wird boxen, wie er es immer getan hat, so unbeweglich wie ein Roboter und so unerbittlich wie ein Bulldozer, und wenn der Körper mitspielt, wird er Peter, eher wüster Haudrauf als ästhetischer Feingeist, durch seine physische und vor allem auch psychische Dominanz brechen. Der Vitali Klitschko jedoch, der heute in den Ring steigt, ist ein anderer Mensch als der, der 2004 aus dem Seilgeviert kletterte. Er ist in den Jahren als Politiker und Geschäftsmann - die Brüder vermarkten sich und andere Boxer mit den Unternehmen K2 und KMG in Eigenregie - unglaublich gereift.

Machten ihm früher große Medienaufläufe zu schaffen, was man stets an den malmenden Wangenknochen sehen konnte, so hat er gelernt, den Menschen auf öffentlichen Auftritten das zu geben, was sie erwarten: ein bisschen Show, ein paar knackige Zitate und einen gut gelaunten, dabei jedoch stets beherrschten und freundlichen Sportler. Er wechselt fließend vom Deutschen ins Englische. Vom weltmännischen Charme seines Bruders hat er sich eine Scheibe abgeschnitten, ohne dabei die Ernsthaftigkeit zu verlieren, die ihn immer auszeichnete. Und wer das Glück hat, ihn in kleinen Runden zu erleben, der lernt einen Vitali Klitschko kennen, der vor feinsinnigem Humor nur so sprüht. Man spürt dann, dass er das Boxen nicht mehr braucht, um Geld zu verdienen, sondern es tut, weil es ihm Spaß macht.

Eine weitere Frage, die Klitschko zuletzt permanent gestellt wurde, war die, ob man sich Sorgen um seine Gesundheit machen müsse. "Selbstverständlich haben meine Mutter und meine Frau Sorgen, aber wenn ich jeden frage, was er darüber denkt, werde ich niemals einen Schritt nach vorne machen. Das ist mein Leben, und ich mache, was ich machen muss. Nur das Ergebnis wird zeigen, ob es eine richtige oder eine falsche Entscheidung war", hat er geantwortet. Ist es das Ergebnis, das Klitschko erwartet, dann wäre der Traum erfüllt. Und was käme dann? Er wolle keine Altersrekorde brechen, sagt der Ukrainer zwar. Insgeheim hegt er aber einen weiteren Traum. Den vom Rückkampf gegen Lennox Lewis, dem er durch Abbruch im Juni 2003 in Los Angeles unterlegen war. Lewis trat danach zurück - und hat seitdem die Frage nach seiner Rückkehr Tausende Male gehört. Bislang war auch seine Antwort immer dieselbe. Aber man wird ja wohl träumen dürfen.