Der 19-Jährige turnt vom vorletzten auf den zweiten Platz. Am Sonntag will er Gold am Reck holen.

Stuttgart. Jubel, Trubel, Hambüchen - das deutsche Spätsommer-Märchen bei den Kunstturn-Weltmeisterschaften in Stuttgart geht weiter, und Chefcoach Andreas Hirsch konnte es kaum glauben. "Wir sind mitten in einem Traum und erleben tolle Tage", sagte der Bundestrainer und blickte mit feuchten Augen zum ersten deutschen Vizeweltmeister im Mehrkampf. 24 Stunden nach dem überraschenden Gewinn von Mannschaftsbronze übertraf sich Fabian Hambüchen erneut selbst und schrieb in einem denkwürdigen Mehrkampf-Finale (Barren, Boden, Reck, Ringe, Seitpferd, Sprung) Kunstturn-Geschichte.

Anscheinend aussichtslos abgeschlagen nach drei von sechs Geräten auf Rang 23 unter 24 Turnern platziert, startete der Ausnahmeathlet aus Niedergirmes eine beispiellose Aufholjagd, die ihn fast bis auf den WM-Thron geführt hätte. Am Ende standen 92,200 Punkte zu Buche, der alte und neue Weltmeister Yang Wei aus China sammelte 93,675. Hirsch: "Das hat er cool und professionell gemacht." Hambüchen hatte selbst als Vorletzter seine Hoffnungen nicht aufgegeben. "Ich wusste, es kann nur besser werden und mir war klar, dass zumindest Rang vier noch drin war. Und: Ich bin auch in der Form meines Lebens", keuchte der Hesse, nachdem er sich durch Dutzende von Autogrammjägern gezwängt hatte.

Die Nervenstärke des Reck-Europameisters an seinem Spezialgerät gab schließlich den Ausschlag. Zum dritten Mal binnen drei Tagen turnte er dort die schwerste Kür der Welt sauber durch und erntete dafür tosenden Applaus der 7500 Zuschauer in der am Freitag ausverkauften Hanns-Martin-Schleyer-Halle. 16,05 Punkte reichten, um Hisashi Mizutori aus Japan (91,400) die Silbermedaille noch zu entreißen. Während der Hambüchen-Clan um Vater und Trainer Wolfgang kaum mehr als zusammenhanglose Satzfetzen von sich geben konnte, prasselte von höchster Stelle Lob auf den zweitbesten Turner der Welt nieder. "Er kann sich immer wieder steigern, eine phänomenale Leistung", meinte Rainer Brechtken, der Präsident des Deutschen Turner-Bundes (DTB). Sportdirektor Wolfgang Willam formulierte kaum weniger euphorisch: "Fabian ist einfach ein begnadeter Mensch."

Der 19 Jahre alte Abiturient profitierte auch von ungewohnten Schwächen seiner Rivalen. So hatten sich der Japaner Hiroyuki Tomita mit zwei Stürzen früh aus der Spitzengruppe verabschiedet. Mehrkampf-Europameister Maxim Dewiatowski (Russland) gab im fünften Durchgang am Barren wegen einer Fußverletzung auf. Als Rang zwei feststand, bedankte er sich mit nicht enden wollendem Winken bei den Zuschauern, die es nicht mehr auf den Sitzen hielt. Bei der Siegerehrung am Abend auf dem Stuttgarter Schlossplatz jubelten ihm erneut Tausende begeistert zu.

Im Schatten Hambüchens turnte der deutsche Vizemeister Philipp Boy aus Cottbus einen durchwachsenen Wettkampf. Der 20-Jährige, in der Qualifikation noch Zehnter, fiel nach einem Patzer beim Sprung, dessen Landung er mit beiden Händen abstützen musste, auf Rang 18.

Am Sonntag (15.45, ZDF live) turnt Hambüchen in zwei Gerätefinals. Während er am Reck erster Kandidat auf den WM-Titel ist, gilt er im Sprung als Außenseiter.