Tagebuch: Mittendrin statt nur dabei - ein Tag neben Tourchef Jean-Marie Leblanc.

Namur. Moto 19 stand auf dem schlichten Schild am Heck der knallroten Kawasaki 1200 F ZRX. Doch für mich war diese Tour-Kennung gestern der Freifahrtschein ins Herz der Tour. Auf Einladung der Rennleitung durfte ich eines der schweren Motorräder besteigen, die dem Geschehen auf dem Parcours so nahe kommen, wie sonst nur Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc im Skoda Superb TDi mit der Nummer eins.

Kaum hat man mir am Start in Charleroi einen Integralhelm übergestülpt, als die wilde Hatz auch schon beginnt. Die Stadtgrenze ist gerade passiert, da hat sich bereits jene sechsköpfige Spitzengruppe davongemacht, die das Rennen 164 km bestimmen wird.

Doch eine PS-starke Maschine ist noch lange keine Gewähr dafür, den Fahrern auch an den Fersen kleben zu können. Denn hinter den stampfenden Ausreißern rangeln in rasender Fahrt Materialwagen, die Kräder der Fotografen und zig Servicekarossen um die beste Position. Dabei wird es fast im Minutentakt verdammt eng. Mal trennen einen nur noch wenige Millimeter vom Bordstein, mal droht ein abrupt ausscherender Materialwagen zur Abschussrampe in den Straßengraben zu werden.

Doch bei meinem Piloten Thierry Bouton bin ich offenbar in besten Händen. Der 42 Jahre alte ehemalige Motocrossfahrer aus Rue in der Normandie beherrscht seinen Job perfekt. Als es zur ersten Sprintprüfung bei Kilometer 53 in Mons geht, kurbelt die Fluchtgruppe keine zehn Meter vor uns, während einen Meter neben mir Tour-Direktor Leblanc im Fond seiner Limousine thront wie ein Feldherr - näher dran an der Tour kann man nicht sein.

Mit Tempo 160 rauschen wir wenig später über die Landstraßen der Province de Hainaut und verschaffen uns so rasch einigen Vorsprung. Thierry begehrt eine Rauchpause, was auch meine Blase sehr begrüßt. Pedaleure können schließlich von ihrem Zweirad pinkeln, Reporter nicht.

Als wir uns wieder einreihen, sind wir auch gleich wieder mittendrin im Rennalltag. Immer wieder hebt einer der Ausreißer den Arm, fordert so seinen Mannschaftswagen an. Der prescht kurz darauf tatsächlich wie aus dem Nichts ans Hinterrad des Fahrers - Radio Tour machts möglich. Während Jakob Piil vom Team CSC nach einer neuen Trinkflasche verlangt, möchte der Ire Mark Scanlon vom Team AG2R nur seine Regenjacke loswerden.

Sollte der Teamwagen nicht schnell genug aus der den Fahrern folgenden Blechlawine zur Stelle sein, übernimmt schon mal Tourchef Leblanc den Part des Garderobiers. Während die Fahrer im Verpflegungsbereich bei Kilometer 103 Müsliriegel, Reiskuchen und Wasser aufnehmen, wird in Leblancs Limousine Champagner gereicht. Ich begnüge mich mit einer Flasche Wasser, die ein Kradfahrer des Hauptsponsors Aquarel vorbeigebracht hat.

Obwohl die Fahrer mit Tempo 80 ins Städtchen Pont-au-ri rasen, verrät ein Blick zurück, dass die Meute des hetzenden Hauptfeldes immer näher rückt. Bei Kilometer 174 werden die Ausreißer endgültig geschluckt. Höchste Zeit, sich aus dem Staub zu machen, um den Sprintern beim finalen Massenspurt nicht im Weg zu sein. Mit Tempo 120 jagen wir durchs dichte Spalier der Zuschauer in Namur.

Fünf Minuten vor Etappensieger Robbie McEwen ist mein Ritt auf der Rasierklinge beendet. Ob die Landschaft reizvoll war? Keine Ahnung!