Nur ein Spiel? Nein. Heute Abend geht es im Uefa-Cup um mehr, wenn für 90 Minuten aus Freunden Gegner werden. HSV gegen Galatasaray - das ist auch ein Duell der Kulturen und Mentalitäten. Der Hamburger Comedian und Autor Kerim Pamuk, geboren an der Schwarzmeerküste, schreibt im Abendblatt über zwei Städte, die dennoch so viel gemeinsam haben.

Am Wasser liegen sie beide, Hamburg und Istanbul. Hafen, Schiffe, Dieselgestank und dröhnende Schiffshupen gehören zur Ausstattung beider Metropolen. Darum kann man das heutige Uefa-Cup-Spiel zwischen dem HSV und Galatasaray durchaus als ein Duell der Fischköpfe bezeichnen. Weil vor dem Fußball alle gleich sind, wird man im Stadion keine allzu großen Unterschiede in den Anfeuerungschören feststellen können. Dem langgezogenen und äußerst melodischen "Haaa Esss Vaaauuu!" der Hamburger Fans werden die Anhänger Galatasarays ihr genauso musikalisches "Cim Bom Bom!" entgegenbrüllen. Nur die mehr oder minder wichtigen Leute in den VIP-Logen werden das Spektakel auf dem Rasen lieber nebenbei über die Monitore verfolgen und bei Lachsstreifen und einem Glas Sekt erörtern, wie man dem Namenssponsor des Stadions und Neumitglied des Bankenprekariats wieder auf die Beine helfen kann.

Unter den türkischen Fans im Stadion werden nicht viele aus Istanbul sein, denn der Durchschnittstürke vom Bosporus kann sich nicht einmal die überteuerten Tickets in der Heimat leisten. Von einer Reise zu einem Auswärtsspiel nach Hamburg kann er nur träumen. Natürlich wird er mit anderen glühenden Galatasaray-Fans vor dem Bildschirm hocken und sämtliche Daumen und Zehen drücken, während seine Intimfeinde, also die Fans von Fenerbahce und Besiktas, genüsslich jedes Tor des HSV beklatschen werden.

Die Rivalität unter den "drei großen" Istanbuler Klubs ist so groß, dass zum Beispiel ein normalfanatischer Fan von Fenerbahce den anderen beiden Vereinen samt Anhängerschaft grundsätzlich die Pest an den Hals und möglichst viele Niederlagen wünscht, selbst wenn diese im Europa-Pokal gegen griechische oder armenische Vereine spielen. Jeder Verrückte ist vernünftiger als ein türkischer Fußballfan beim Spiel des verhassten Konkurrenzklubs.

Was vielleicht nicht ganz unverständlich ist, denn sein Alltag in der größten Stadt des Landes ist aufreibend. Allein der morgendliche Verkehr kostet ihn mehr Nerven, als er eigentlich hat. Im Kriechtempo winden sich kilometerlange Autokolonnen durch die asphaltierten Hauptschlagadern der Metropole und die Anfahrt zur Arbeit kann gute zwei Stunden dauern, wenn man auf der asiatischen Seite wohnt, aber auf der europäischen arbeitet. Ein großräumiges U-Bahn-Netz ist zwar in Planung, aber bis es so weit ist, wird noch viel Wasser unter den beiden Hängebrücken hindurchfließen. Städtische Busse haben selten eine eigene Fahrbahn. Möchte man einen Istanbuler zum Lachen bringen, muss man ihn an einer Haltestelle nur nach der geplanten Abfahrtszeit des nächsten Busses fragen.

Da hat es der Hamburger komfortabler. Verglichen mit Istanbul ist der öffentliche Personennahverkehr (oh du amtsdeutsche Poesie!) seiner Heimatstadt perfekt ausgebaut und er kommt einigermaßen stressfrei zur Arbeit. Es sei denn, er gehört zu der masochistischen Gilde von Autofahrern, die jeden Morgen vor dem Elbtunnel überraschend im Stau steht und sich vom Verkehrsfunk erklären lässt, dass es einen Stau vor dem Elbtunnel gibt. Der Hamburger muss auch nicht wie sein Istanbuler Pendant beim Gehen tiefer gelegten Gullydeckeln ausweichen oder rasende Taxis fürchten, die rote Ampeln für dekorative Straßenbeleuchtung halten. Stattdessen darf er sich mit böswilligen Busfahrern rumschlagen, die losfahren, während er noch an die Tür klopft, oder Radfahrern, die ihm "Das ist ein Radweg!" entgegenbrüllen.

Istanbuler und Hamburger leben trotzdem in attraktiven, lebenswerten Städten, die vor allem im Sommer unschlagbar sind. Denn der halbjährige norddeutsche Winter mit seiner weltweit patentierten Mischung aus Nieselregen, Schneeregen, Wind und hundertzwanzigprozentiger Luftfeuchtigkeit setzt dem Hamburger Jung genauso zu wie dem stolzen Istanbuler der aus Abgasen und Kohleöfen gespeiste Smog. Über die kalten Monate legt sich dieser wie eine luftdichte Glocke über die auf sieben Hügel gebaute Mega-Metropole und gibt sie erst wieder im Frühling frei. Richtig durchatmen kann der Istanbuler im Mai oder Juni, wenn die Luft merklich leichter und wärmer wird und er die obligatorische Bosporus-Tour mit der Fähre macht. Beim Anblick des unglaublichen Panoramas, das ihm sowohl die europäische als auch die asiatische Seite bietet, weiß er auch wieder, warum er damals, wie die meisten anderen Bewohner auch, seine anatolische Heimat verlassen hat, um in dieser gelobten Stadt sein Glück zu versuchen.

Von ähnlicher Schönheit ist ein Spaziergang an Elbe oder Alster, wenn das Tor zur Welt in sattem Grün ertrinkt und die ersten wirklich warmen Sonnenstrahlen dem sonst im Ausdruck sparsamen Hamburger ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Er muss nicht mehr drei, vier Schichten Klamotten durch die Gegend schleppen, und die Haut bekommt endlich Luft. Dann schlendert er täglich mit Freunden ins Schanzenviertel, holt sich auf dem Weg einen "Döner to go, auf scharf und mit viel Zwiebel" und genießt bei einem typisch deutschen "Galao" oder Bier die lauwarmen Abende. Man kann durchaus schlechter leben als in der Hansestadt. Jeder kann hier nach seiner Fasson glücklich werden. Die Toleranz und Weltoffenheit dieser Stadt suchen in Deutschland ihresgleichen. Gut, Hamburg ist nicht gerade die Stadt, die niemals schläft, aber für alle chronisch Wachen gibt es St. Pauli. Für Romantiker die Kanäle und etliche Parkanlagen, für manische Jogger die Außenalster und für reiche Metrosexuelle die HafenCity.

Der Istanbuler würde die Atmosphäre in Hamburg als beschaulich und ruhig empfinden, als geradezu idyllisch, denn er lebt in einem immer weiter wachsenden, pulsierenden Moloch. Seine Stadt absorbiert und gibt Energie, inspiriert und reibt auf. Hat einen alltäglichen Stressfaktor, der jeden Norddeutschen nach einer Woche in den Wahnsinn treiben könnte. Niemand weiß, wie viele Einwohner diese chaotische Megapolis auch nur ungefähr hat, die Schätzungen schwanken zwischen zehn und fünfzehn Millionen. Über zwei Kontinente verteilt, stellt Istanbul die ganze Türkei mit ihren Widersprüchen und Problemen, mit allen Licht- und Schattenseiten wie unter dem Brennglas dar.

Der Reichtum in dieser Stadt ist immens, die Armut in den wild in die Landschaft gebauten Trabantenstädten ohne Infrastruktur auch. Mondäne Stadtteile mit Kunstgalerien, Museen, Cafes und Theater liegen neben Vierteln, in denen man kaum eine Frau ohne Kopftuch auf der Straße sehen wird. Hochhäuser mit modernen Glasfassaden stehen neben brüchigen Zementhütten, teure Limousinen teilen sich die verstopften Straßen mit Lastenträgern, klapprigen Autos, Passanten und röhrenden Bussen. Istanbul hat alles satt: Kunst und Kultur, Dekadenz und Armut, Weltgeist und Provinzialität. Hat Geschichte und bietet Zukunft.

Und ein unwiderstehliches Flair, das sich einem sofort erschließt, wenn man sich in das Gewusel der Gassen rund um den Taksim-Platz stürzt, wie es der Einheimische gerne tut. Längst hat er akzeptiert, dass die extrem schmalen und garantiert holperigen Bürgersteige den Tischen von Restaurants und Auslagen von Händlern vorbehalten sind, weil in den Sommermonaten das ganze Leben auf den Straßen stattfindet.

Man kann die Lebenswelt eines Istanbulers nicht wirklich mit der eines Hamburger vergleichen, aber die Träume der beiden Großstädter sind so unterschiedlich nicht. Der Hamburger träumt von einem krisenfesten Arbeitsplatz und sicherer Rente. Er wünscht sich mehr Kita-Plätze statt Elbphilharmonie. Hundert Tage im Jahr mit Sonnengarantie wären auch nicht schlecht. Und er möchte endlich wieder aus voller Brust den alten Smash-Hit "Wer wird deutscher Meister? Ha-Ha-Ha Ha-Es-Vau!" singen. Der Istanbuler träumt von einer Krankenversicherung, die er sich auch leisten kann, von einem Monat ohne Verteuerung der Lebensmittel. Er möchte mehr Urlaubstage und weniger Stress, ein neues Auto und Serien im Fernsehen mit synchronem Ton. Er möchte noch miterleben, dass Galatasaray die Champions League gewinnt und die anderen beiden Istanbuler Klubs gleichzeitig in die zweite türkische Liga absteigen.

In beiden Großstädten leben viele verschiedene Ethnien, und das Zusammenleben wird nicht selten von Konflikten und Problemen überschattet, die keiner ernsthaft leugnen kann. Aber gerade in Hamburg hat sich in den letzten Jahren ein friedliches Miteinander entwickelt, das Zusammenleben von Deutschen und Türken ist endlich zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Das sollten heute Abend die Fans beider Mannschaften nicht vergessen, egal wer am Ende das Spiel gewinnt.


Kerim Pamuk liest am 20. April (19 Uhr) bei den Vattenfall-Lesetagen in Zusammenarbeit mit dem Abendblatt in der Axel-Springer-Passage.