HEW-Cyclassics: Ein 59-Jähriger wagt erstmals das Abenteuer: 120 km auf dem Rad.

Hamburg. Ist der Mensch meschugge? Ist er meschugge, wenn er (Jan Ullrich und die Tour im Hinterkopf) mit über 50 Jahren beschließt, erstmals in seinem Leben auf ein Rennrad zu steigen? Mit dem Ziel, am 3. August bei den HEW-Cyclassics zu starten. Nicht die Jedermann-Tour von 60 km, die jeder Sesselpupser schafft, sondern die 120er-Runde. Ist das Endlife-Crisis? Denn Radfahren ist nicht ungefährlich. Oberkörper über den Lenker gebeugt, total direkte Steuerung und auch noch die Füße beängstigend fest gezurrt an den Pedalen. Erster Tipp: immer den Lenker gut festhalten. Schon ein kleines Schlagloch kann ihn aus der Hand schlagen. Und dann die Gefahren im Straßenverkehr, denn Rennradfahrende fahren nicht auf Radwegen (wg. schmaler Reifen; ca. acht bar Luftdruck): hupende Ungeduldige am Hinterrad, zentimeternahe Nähe von Lkw beim Überholen (aber der Windzug gibt Vortrieb). Die erste Ausfahrt bestätigt die Ängste. Schon nach 300 Metern (Vorfahrt rechts vor links) brettert ein Paketkurier von links in die Quere. Einziger Ausweg ist die Flucht auf den Fußweg. Rennräder sind federleicht, sie verleiten geradezu zum Schnellfahren. Die Leichtigkeit ist nicht billig, Rennfahren ist vielmehr teuer. Man benötigt ein Rad - anfangs reicht eines für 1250 Euro. Wichtigstes Utensil: der Helm (um 75 bis weit über 100 Euro), ohne geht gar nichts. Der Radler braucht ein Trikot und eine gepolsterte Hose (wird auf der nackten Haut getragen) für zusammen um 125 Euro, Schuhe mit Einrastplatte (ca. 120 Euro), Pedale sind auch noch extra zu kaufen (um 50 Euro), Handschuhe (25 Euro), Brille (von 6,99 bis 150 Euro), Socken, Trinkflasche - und den Ersatzschlauch nicht vergessen. Am besten lassen Sie sich von einem früheren deutschen Meister beraten: Dieter Leitner (Tel. 0 41 02/8 14 99). Die erste Fahrt führt gleich ins schleswig-holsteinische Hochgebirge: den Götzberg rauf (89 m), an der alten Windmühle vorbei. Du hast das Gefühl, dass jedes Prozent Steigung deine Geschwindigkeit in Zehnerschritten reduziert. Es ist wie bei der Tour: Das Blut pocht im Schädel, die Beine brennen. Und dann der Wind. Im Norden ein ständiger Begleiter; Radfahrers natürlicher Feind. Und er kommt - alte Erfahrung - immer von vorn oder von schräg. Da bieten Knicks an den Feldern willkommenen Windschatten. Aber die Natur bietet auch Freude gegen solche Feinde auf. In der Qual setzt der Körper Endorphine frei, die Glückshormone. Sie erleichtern die Leiden, mancher spürt regelrechte Lustgefühle. Und wenn dann bei 35 Stundenkilometern der Fahrtwind das Gesicht streichelt - das ist Frischluft für die Seele. Oder die Düfte. Wenn der Flachs die Landschaft in sattes Gelb taucht und die Luft schwanger ist von süßlichem Blütenstaub. Wenn die Bauern ihre Wiesen mähen, wenn der Wind durch die Kornfelder bläst - das produziert Naturerlebnis pur. Nur der Radfahrer erlebt das so vollkommen.Und er schärft seine Nase für Gerüche: Schweinegülle stinkt beißend, Kuhdung beinahe mild, Pferdeäpfel sind fast geruchsneutral. Wer bei den Cyclassics die 120er-Runde fahren will, muss ein Stundenmittel von 30 km/h schaffen, sonst nimmt ihn der Veranstalter aus dem Rennen. Gescheit ist, wer sanft beginnt. 30 km, später 50 km, dann auch weiter steigern. Wer vom Fernsehsessel in den Radsattel klettert, muss zunächst mal die verkümmerten Stränge der Radler-Muskulatur aufwecken. Das dauert Wochen. Grundsätzlich gilt: Raus aufs Rad und los und treten, was das Zeug hält - das geht, geht aber selten gut. Es ist schon mancher mit osramrotem Kopf vom Rad gefallen. Wer hilft dem Laien aufs Rad? Der Hausarzt? Fraglich. Eine Umfrage unter Medizinern ergab: Nur wenige trauen sich eine wirkliche Beratung zu. Die Lösung bietet das Institut für Sport- und Bewegungsmedizin (Tel. 4 71 93 00). Chef Professor Klaus-Michael Braumann untersucht und berät Laien - wie Profisportler. Der Check kostet zwischen 120 und 250 Euro. Er gibt exakte Angaben, wann der Untersuchte optimal sein Hüftfett verbrennt oder bestmögliche Trainingsergebnisse erzielt. Braumann räumt auf mit den oberflächlichen Empfehlungen über Pulsfrequenzen in Büchern der Fitnessbranche: "Teilweise Unsinn." Eine seiner Patientinnen trainierte lange mit Herzschlag 130 und wurde nicht schlanker. Der Test ergab, sie verbrennt Fett optimal bei 160. Heute hat sie ihre Figur im Griff, ihr Lebensgefühl steht auf Glück. Objektive Ergebnisse liefert das Belastungs-EKG auf dem Fahrrad-Ergometer. Der Test des Autors verläuft außerhalb der Norm: Bei einer Belastung von 235 Watt (Jan Ullrich tritt 450) zeigt sich eine alarmierende Veränderung des Blutdrucks: 265 zu 80 - Abbruch. Fällt, wer sich derart konditioniert bei den Cyclassics den Waseberg mit Vollgas hochquält, unter Umständen mit einem Schlaganfall vom Rad? Professor Braumann: "Nein. So ist das Kreislaufsystem nicht geschädigt. Doch die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sich der Blutdruck in den nächsten fünf Jahren auch im Ruhestand zu Hochdruck entwickelt." Dagegen hilft nur Ausdauertraining. Radfahren. "Sie sind Niedrigpulser", sagt Braumann. Mein Herzschlag in Ruhe: 52 pro Minute. Entsprechend niedrig liegt auch die Frequenz für eine sinnvolle Trainingsbelastung - 110 Herzschläge. Beim Training ist ein Pulsmesser wichtig. Denn der Ehrgeizige fährt leicht zu schnell und trainiert ohne Effekt. Es empfiehlt sich, genau in seinen Körper hineinhorchen zu lassen. Wer jetzt noch auf die Schnelle ohne Training bei den Cyclassics starten will, kommt zu spät. Alle Startplätze sind vergeben. Aber die Zeit ist günstig: Räder und Ausrüstung werden derzeit mit bis zu 50 Prozent Rabatt angeboten. Zugreifen und mit dem Training starten und 2004 dabei sein. Warum nicht auch jenseits der 50 . . .?