Der Themse-und-Küsten-Radweg in der Grafschaft Kent bietet alles, was Pedalritter schätzen: Die grüne Burgen- und Schlösserlandschaft in der Grafschaft Kent bietet alles, was Radfahr-Touristen schätzen: historische Orte und reizvolle Ufer.

Wo sitzt der größte Muskel des Menschen?“, fragt Manfred Traunmüller und lässt den Angesprochenen, die noch etwas skeptisch ihre gerade in Empfang genommenen E-Bikes in Augenschein nehmen, keine Zeit, lange über die Antwort nachzudenken. „Hier sitzt er“, sagt der Geschäftsführer des größten Radreise-Anbieters in Österreich und streicht die Handflächen seitlich über die Beine. Der Musculus glutaeus maximus setzt am Gesäß an und bildet die Außenseiten der Oberschenkel. Die größte Oberfläche hat er aber dort, wo der Mensch sich draufsetzt. Zum Beispiel auch auf einem schmalen Fahrradsattel.

„Den Muskel trainieren wir jetzt“, sagt Traunstein. Denn seine Gäste sitzen überwiegend, wenn sie in Tages-Etappen von 40 bis 70 Kilometern durch den Süden Englands radeln; dabei trainieren sie letztlich die gesamte Muskulatur – auf dem E-Bike etwas weniger, auf dem normalen Fahrrad ein wenig mehr. Aber auch ohne anatomische Details ist klar: Radfahren ist gesund und „in“ sowieso.

Wer gern mal eine Tour abseits der bekannten großen Radwege nahe Donau, Main oder Elbe machen will, der ist in der Grafschaft Kent, im äußersten Südosten Englands, gut aufgehoben. Die grüne Burgen- und Schlösserlandschaft, auch Garten von England genannt, bietet alles, was Rad-Touristen schätzen: gut ausgeschilderte Wege, die vorbei an reizvollen Küsten, Hopfenfeldern, Obstgärten und Moorlandschaften gehen, durch ausgedehnte Waldgebiete führen oder entlang an Seen und Flüssen, zum Beispiel über ausgediente Treidel- oder Leinpfade, auf denen früher Pferde die Lastkähne gemächlich zum Zielort zogen. Diese historischen Trampelpfade eignen sich besonders gut für Radtouristen.

Idealer Ausgangspunkt einer Kent-Tour ist der alte Badeort Margate. Der einst mondäne Glanz ist hier nur noch zu erahnen. Vorbei sind die Zeiten, als aus dem 120 Kilometer entfernten London die Touristen massenhaft hierher strömten. Billigflüge an Mittelmeerstrände und eine schnelle Anbindung an den Kontinent durch den Eurotunnel sind moderne Alternativen für urlaubsreife Großstädter. Der in der traditionellen Hafenstadt Margate – 1254 als Meregate gegründet – und der gesamten Region schwindende Tourismus ist für die im Landesdurchschnitt um einiges höhere Arbeitslosigkeit verantwortlich. Da gilt es, neue touristische Angebote zu erschließen. So fließen seit Jahren erhebliche Summen auch in den Ausbau der Radwege.

Die Wege sind gut beschildert
Die Wege sind gut beschildert © Christoph Rind | Christoph Rind

Margate besticht durch einen morbiden Charme – und den Mut der Bewohner. Wie Nick Conington, der vor vier Jahren ein Backsteingebäude aus dem 19. Jahrhundert ersteigerte, um es in ein Apartmenthaus umzuwandeln. Doch weil das Sands früher ein Hotel war, änderte er seine Pläne und schuf mit Aufwand und Liebe zum Detail ein luxuriöses Design-Hotel mit 20 Zimmern mit Blick auf die Bucht von Margate sowie ein Restaurant mit ausgezeichneter Küche.

Von Margate aus geht’s auf zwei Rädern durch Kent, Englands ältester Grafschaft – mit langer Geschichte, bezaubernden Gärten, schönen Küsten und Buchten. Hier trifft man auf Spuren von Churchill, Charles Dickens und Charles Darwin. Unbedingt lohnt sich ein Abstecher zu einem der prächtigsten und wichtigsten historischen Gebäude Englands, der Kathedrale von Canterbury, die 1988 von der Unesco zum Weltkulturerbe geadelt wurde.

Am Westportal der Kirche, Stein auf Stein gebaut in englischer Gotik, stehen in zwei zuvor leeren Nischen zwei neuzeitliche Steinskulpturen, deren markante Züge auf Anhieb zu erkennen sind: Queen Elizabeth II. und ihr Mann, Prinz Philip. Sie wurden dort erst im März dieses Jahres eingesetzt, bezahlt vom Verein der Freunde der Kathedrale in Erwartung der längsten Regentschaft der britischen Geschichte. Die Queen muss also noch bis zum 9. September durchhalten, dann würde sie ihre Ur-Urgroßmutter, gemessen an ihrer Regierungszeit, überrunden, nachdem sie am 6. Februar 2015 den 63. Jahrestag ihrer Thronbesteigung begangen hat.

Im Innern des Gotteshauses halten sich die kundigen Guides nicht mit grausamen Details aus der bewegten Geschichte zurück. Thomas Becket, auch bekannt als Thomas von Canterbury, Kaufmannssohn aus London, Berater und Lordkanzler von König Heinrich II. von England, wurde 1162 Erzbischof von Canterbury und geriet plötzlich in Konflikt mit dem König, der sich mehr Einfluss auf die Kirche sichern wollte. Nachdem Heinrich II. gefragt haben soll „Wer befreit mich von diesem Becket?“, fanden sich vier Ritter, die den Bischofin einer Seitenkapelle meuchelten, „den Schädel aufschlugen und sein Gehirn auskratzten“, um seines Todes auch ganz sicher zu sein, wie man vor Ort erfährt.

Mit dem Rad geht es zügig durch die von Besuchern und Studenten gefüllten Gassen, vorbei an historischen Weberhäusern mit Blick auf den sich durch das 55.000-Einwohner-Städtchen schlängelnden Fluss Stour. Auch ein Abstecher mit dem Boot ist möglich. Hier lohnt die Radroute über den Crab-and-Winkle-Way, dessen Namen an eine alte Zuglinie erinnert, die Canterbury und Whitstable miteinander verband. Die 13 Kilometer lange Strecke ist mit „Krabben“ markiert, zum Beispiel als Schnitzwerk auf hölzernen Wegweisern.

Wer sich nicht auf den eigenen Orientierungssinn verlassen will, ist mit einer vorbereiteten Radreise gut bedient. Sie lässt dennoch Spielraum, um die vorgeschlagene Route an das eigene Radel-Tempo anzupassen oder an individuell festzulegende kulinarische oder kulturelle Zwischenstopps.

Zum Beispiel in Sandwich, um sich von einem der 4500 Bewohner erklären zu lassen, warum jeden Tag um 20 Uhr die Abendglocke in der St. Peter’s Church läutet und warum sie Pigbell („Schweineglocke“) heißt. Früher ließen bei diesem Signal die Bauern ihre Schweine raus, damit die auf den Straßen den Müll fressen konnten. Ein zweites Läuten hieß: Die Schweine müssen wieder rein. Heute übernimmt eine Gruppe von 31 Freiwilligen das Läuten, jeweils für einen Monat. England ist nun mal so liebenswert auch wegen seiner Schrulligkeiten.

Andere Vorurteile werden schnell von der Wirklichkeit widerlegt, wie das von Englands schlechter Küche. Ob im mehrfach ausgezeichneten Restaurant The Ambrette beim gelungenen Mix zwischen britischer und indischer Küche oder beim traditionellen Nachmittags-Tee in den zahlreichen Lokalen mit Bilderbuchgärten auf dem Land. Wie schaffen es die Briten nur, diese riesigen Rasenflächen stets so aussehen zu lassen, als seien sie gerade erst gemäht worden?

Nach drei Tagen kreuz und quer durch Kent bietet sich ein Abstecher in die 150.000-Einwohnerstadt Reading an, auf halbem Weg zwischen London und Oxford, am Zusammenfluss von Kennet und Themse. Von hier geht es am Themse-Radweg nach Whitchurch, immer am beschaulichen Flussufer entlang, vorbei an alten Schleusen und historischen Gebäuden. Auf einem der zu Cafés umfunktionierten Themse-Boote wartet nach einer Tagesradstrecke der Afternoon Tea, very British. Drei Gänge, beginnend mit Sandwiches und herzhaften Zutaten, folgen die berühmten Scones, die kleinen zylindrischen, weichen Brötchen aus Weizen-, Gerste- oder Hafermehl, die dick mit Marmelade und Clotted Cream, dem Streichrahm, veredelt werden. Gang drei – süße Kuchen – sättigt für den Rest des Tages – oder stärkt für die nächste Etappe, um rundum zufrieden ins Nachtquartier zurückzuradeln.