Handwerk, Kunst, Esstempel, Boutiquen und Clubs prägen das bunte Viertel Testaccio. Ein Dorf mitten in der Stadt.

Wie bitte? Ob die Sepias frisch sind? Danilo Mastroianni hält die Luft an und schleudert Blitze durch seine Brillengläser. „Die leben noch, Signora!“ Genau wie die Goldbrassen, die Sardinen und die Rotbarben in Mastroiannis Fischbude in der Markthalle von Testaccio. Wie zum Beweis schnappt sich der Händler einen der noch schwarz verfärbten Tintenfische und schwingt ihn durch die Luft. „Geputzt und die Tintenblase schön extra verpackt?“ Die Kundin nickt, ihr Sepia-Risotto schon schwarz und sämig vor Augen. Am Marktstand gegenüber wird sie noch Sellerie und Tomaten dafür kaufen. Aber so schnell lässt Danilo sie nicht weg. „Probieren Sie mal diese Gamberi“, säuselt er und greift eine purpurfarbene, fette Garnele aus dem Eis. „Die Roten aus Apulien, das Beste vom Besten. Roh können Sie die essen, eine Leckerei! Ich gebe Ihnen noch einen Spritzer Zitrone drauf.“ Die Signora kostet, lächelt. Und schon ist Mastroianni die Tierchen los.


Danilo beherrscht sein Geschäft, schließlich ist er Fischhändler seit über 30 Jahren. Gleich nach der Hauptschule stieg er bei seinem Vater Alvaro ein, der seinerseits schon als Junge Fische verkaufte. Gelegentlich schaut der hochbetagte Patriarch noch nach dem Rechten.

Der Markt ist für seine gute Ware bekannt. Vor drei Jahren zog er in einen Neubau gegenüber dem  Schlachthof
Der Markt ist für seine gute Ware bekannt. Vor drei Jahren zog er in einen Neubau gegenüber dem Schlachthof © Gerald Hänel/GARP

Doch morgens um halb vier zum Großmarkt fahren, den Fisch holen und verkaufen – das tut der alte Mastroianni nicht mehr, nach sieben Jahrzehnten harter Arbeit ist endlich ausruhen angesagt. Auf dem Markt ist er ohnehin dauerpräsent, die blitzsaubere Bude ist mit seinen Fotos tapeziert. Darauf zeigt sich Alvaro stolz mit seinem Cousin, dem Filmschauspieler Marcello Mastroianni. Die Kinolegende und der Fischhändler, der weltberühmte Latin Lover und der rustikale Garnelenpuler, vereint in Testaccio: Das passt zu diesem Viertel, in dem Rom gleichzeitig Weltstadt ist und Dorf, traditionsbewusster Marktplatz und Zufluchtsort bunter Vögel.

Bodenständiges Handwerk und schräge Kunst, alteingesessene Ess­tempel und abgefahrene Clubs, Krämerläden und schicke Boutiquen: All das versammelt sich längs der schachbrettartig angelegten Straßen zwischen dem Tiber und den Aurelianischen Stadtmauern. Begrenzt wird Testaccio außerdem von zwei Hügeln, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten – dem noblen Aventin mit seinen Kirchen, Klöstern und Villen und dem „Monte dei Cocci“, dem Scherbenberg. Offiziell heißt diese bizarrste Erhebung Roms Monte Testaccio und fungiert als Namensgeber für das Viertel. Ein künstlicher Hügel, 45 Meter hoch, aufgeschüttet aus Abermillionen von Tonscherben.

Denn als im zweiten Jahrhundert vor Christus der zentrale Tiberhafen südlich des Aventin angelegt wurde, standen die dort ansässigen Großhändler bald vor einem gewaltigen Problem: Wohin mit den Amphoren für Olivenöl? Sie schlugen sie entzwei und stapelten sie auf, ein paar Hundert Meter von den riesigen Lagerhallen am Tiber entfernt. Der Berg wuchs und wuchs zu einem beeindruckenden Zeugnis antiker Müllentsorgung. Denn die Scherben wurden sorgfältig mit Erde abgedeckt, um die Stabilität des Hügels zu garantieren und Hygieneproblemen vorzubeugen.

Beides gelang so gut, dass der Monte Testaccio die Jahrtausende überdauerte und dabei auf sehr vielfältige Weise genutzt wurde – etwa um Karneval zu feiern oder den Kreuzweg nachzustellen. In seine Fundamente gruben findige Römer Grotten für ihre Weinvorräte, der Scherbenberg garantierte sommers wie winters angenehme Temperaturen. Aus den Grotten entstanden Weinschänken, später Trattorien und Clubs. Oben auf dem Berg kann man also zwischen den Scherben des Weltreichs spazieren, unten im Berg darf geschlemmt, getrunken und getanzt werden. In einzigartiger Atmosphäre, wie es sich für Roms ungewöhnlichstes Viertel gehört. Tonscherben dienen als Bühnenwand für das „Caffè Latino“, wo der südamerikanische DJ Max Hernandez, der Ägypter Salsi und der Römer Loco Musik für ein nicht mehr blutjunges, aber sehr entspanntes Publikum auflegen. Und nebenan, im „Alibi“, vor nunmehr fast 40 Jahren Roms erste gayfreundliche Disco, tanzen entrückte Römerinnen in der antiken Grotte, zeigen Dragqueens lange Wimpern und riesige Brüste.

Es gibt viel nacktes Fleisch zu sehen, doch niemand fällt aus dem Rahmen: Sich zu betrinken gehört für Römer nicht zum Ausgehprogramm, und Orgien feiert man seit den Zeiten des Kaiserreichs sowieso ausschließlich in privaten Räumen. Dafür, dass das Vergnügen in Testaccio unter Kontrolle bleibt, sorgen Polizisten, Parkplatzwächter mit Trillerpfeife und gestrenge Türsteher. Aber auch die Römer selbst.

Der Berg swingt gemütlich. Vor dem Feiern aber kommt das Essen, und was das betrifft, ist Testaccio erste ­Adresse bei den Traditionalisten der römischen Küche. Ihr Tempel ist „Checchino dal 1887“, das älteste Lokal im Viertel, zu Füßen des Scherbenbergs, gleich gegenüber dem Schlachthof. Der grottenähnliche Speisesaal ist Legende, ebenso wie die Rigatoni mit Ochsenschwanzsauce. Doch „Checchino“ geht mit der Zeit: Im Allerheiligsten der glühenden Verehrer deftiger Innereien- und Fleischgerichte gibt es neuerdings auch ein Menü für Vegetarier. Schließlich hat im Schlachthof sogar ein Bioladen eröffnet. Was auch daran liegt, dass im Mattatoio schon lange keine Tiere mehr geschlachtet werden, sondern Musik gemacht und Kunst ausgestellt wird.Nur die riesigen Hallen mit ihren steinernen Futtertrögen und den gusseisernen Säulen sind geblieben sowie das prächtige Eingangstor mit dem gezähmten Stier.

Im Torgebäude rechts kann man zu jeder Tageszeit Bläser, Klavierspieler und Streicher üben hören – dort ist die Scuola Popolare di Musica untergebracht, Roms erste außerakademische Musikschule.

Römische Grab­pyramide des Casus Cestius und Stadttor Porta San Paolo
Römische Grab­pyramide des Casus Cestius und Stadttor Porta San Paolo © Gerald Hänel/GARP

Immer wieder mischen sich die Töne der Musiker mit fröhlichem Kinderlärm. Besonders vergnügt war dieser, als man hier noch Verstecken spielen konnte: im „Big Bambú“, einer Mischung aus Wald und Turm. Das Kunstwerk hatten die Amerikaner Mike und Doug Starn aus Tausenden von Bambuszweigen erschaffen. 25 Meter hoch erhob es sich auf dem Schlachthofgelände zwischen den Pavillons des Macro Testaccio, einer Zweigstelle des städtischen Museums für zeitgenössische Kunst. Im Unterholz des schwankenden Bambusturms zwitscherten die Testaccio-Kids wie exotische Vögel. Nach über zwei Jahren wurde das Naturkunstwerk im März 2015 wieder abgebaut. Rund 100.000 Besucher hat es angelockt.Die Anziehungskraft des stabilen Scherbenbergs gegenüber ist da geringer. Dafür bleibt er wohl auch die nächsten Jahrhunderte bestehen.

Der alte Schlachthof war immer schon das Herz von Testaccio. Um 1890 erbaut, ist er fast genauso alt wie das ihn umgebende Viertel, das von den Planern der neuen Hauptstadt des Königreichs Italien am Reißbrett entworfen wurde. Deshalb sind die Straßen schnurgerade und die um enge Innenhöfe gebauten Häuser, in denen vielköpfige Arbeiterfamilien hausten, alles andere als luxuriös. Hier gibt es keine Kuppeln und Prachtpalazzi wie wenige Kilometer tiberaufwärts – nur den Berg, den Schlachthof und den Fluss.

Die AS Roma gab es auch noch, sie ist aber schon lange weggezogen. Nur ein Wandgemälde in der Via Galvani kündet noch von den Anfangszeiten des Fußballklubs, der bald nach der Gründung 1927 in dieses Quartier kam und hier groß wurde. Es zeigt eine riesige Wölfin, das Wappentier von Club und Stadt. Bei der letzten Meisterschaft feierte Testaccio geschlagene zwei Monate lang. Das Viertel war festlich in den Vereins- und Stadtfarben gelbrot geschmückt, und jeden Abend gab es Autokorsos. „Der Fußball und der Schlachthof halten unser Viertel zusammen“, sagt Andrea Petrone. Und die Rigatoni. Und das Handwerk. In Testaccio gibt es noch viele alteingesessene Betriebe, Petrone, der Tischler und Möbelrestaurator, führt einen davon. Gerade bearbeitet er auf dem Bürgersteig vor seiner Werkstatt an der Via Bodoni eine Kommode. Nachbarn kommen vorbei, man kommentiert das letzte Match der magica Roma: Testaccio, das Dorf.

Zu diesem Dorf gehört auch ein Friedhof, es ist der schönste in Rom. Der Cimitero Acattolico, der Friedhof für Nichtkatholiken, liegt im Schatten des spektakulärsten Grabmals der Antike, der Pyramide, die der Prätor Gaius Cestius Epulo nach dem Vorbild der Pharaonen im ersten vorchristlichen Jahrhundert für sich errichten ließ. Auf dem Cimitero Acattolico ist nichts spektakulär. Unter hohen Zypressen liegen jene, die auf den katholischen Camposanti nicht begraben werden durften – die englischen Dichter Keats und Shelley, der italienische Kommunist Antonio Gramsci, zwei Kinder von Wilhelm von Humboldt, Goethes einziger Sohn August. Ein Ort der Stille und der Poesie.