Die Hochebene im äußersten Norden Chiles ist ein ungeschliffenes Juwel. Mit Restaurierung von Kirchen sollen Reisende angelockt werden.

Der weiße Mann ist wieder da. Doch anders als die spanischen Conquistadores des 16. und 17. Jahrhunderts, die einzig und allein auf schnelle Raubzüge aus waren, bevor sie dann im Verlauf einer jahrhundertelang währenden Kolonialisierung die indigenen Ureinwohner zuerst massakrierten und die Überlebenden dann missionierten,hat er den Aymara-Indianern des chilenischen Hochlandes fast 500 Jahre später etwas mitgebracht: Know-how und eine faszinierende Idee. „Es geht um die Wiederbelebung der alten Andendörfer und den Stopp der Abwanderung“, sagt der weiße Mann, „es geht darum, eine Infrastruktur zu schaffen und die Häuser wieder aufzubauen, als erstes die Dorfkirche: Denn sie ist der Schlüssel zu den Herzen der Menschen, ihrer Kultur und ihrer Zukunft.“

Dieser weiße Mann ist Ende 40 und trägt den norddeutschen Namen Christian Heinsen. Das kommt nicht von ungefähr. Denn sein Großvater ist Anfang der 30er-Jahre aus Hamburg nach Chile emigriert, in dieses vermutlich untypischste südamerikanische Land, Staat,wo es heute trotz etwa 130 bis 150 Erdbeben pro Jahr gefestigt und demokratisch zugeht.

Kurz nach der Stadtgrenze von Arica ist man im Ausläufer der Atacama-Wüste

Heinsen ist seit dem Jahr 2002 Gründer und Direktor der gemeinnützigen Stiftung Altiplano. Sie hat ihren Sitz in Arica, der nördlichsten Stadt des über 4300 Kilometer langen, schmalen Landes an der pazifischen Westküste, das die Schriftstellerin Isabel Allende(die Nichte zweiten Grades des früheren sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, der sich während des Militärputsches am 11. September 1973 in seinem Amtssitz das Leben nahm), einmal als „Tausend-Schichten-Torte“ beschrieb. Das sollte die landschaftliche Vielseitigkeit ihrer Heimat widerspiegeln. Hier oben, im peruanisch-bolivianisch-chilenischen Dreiländereck, dreieinhalb Flugstunden entfernt von der Hauptstadt Santiago, dürfte sie dabei wohl an einen Sandkuchen gedacht haben. Denn die jährliche durchschnittliche Niederschlagsmenge beträgt gerade mal 0,4 Millimeter pro Quadratmeter.

Und so befindet man sich schon direkt nach den letzten Häusern, der Stadtgrenze von Arica, in einer, ehrlich gesagt, in ziemlich jeder Beziehung relativ unspektakulären Provinzhauptstadt mit gut 200.000 Einwohnern sowie ein paar Stränden, relativ abgewohnten Hotels, einem Surf-Spot und dem – vor allem für das Nachbar- und Binnenland Bolivien wichtigen – Hafen,im nördlichen Ausläufer der Atacama-Wüste, dem trockensten Landstrich der Welt. Die gut ausgebaute, viel befahrene Straße führt in östlicher Richtung binnen weniger Kilometer steil nach oben. Schon nach rund 25 Kilometern, etwa 2500 Meter über dem Meeresspiegel, wird es zum ersten Mal atemberaubend, denn da ist zum einen eine rotbraune, graubraune, graue, rötliche, ockerfarbene – in jedem Fall aber karstige, unwirtliche, menschenfeindliche und staubige – Landschaft; zum anderen ist da aber auch die zunehmend dünne Luft, die für empfindliche Gemüter nur schwer zu verknusen ist. Kokablätter zu kauen und bereits Stunden vor der Hochland-Expedition literweise Wasser zu trinken kann die Symptome lindern. Kann.

An dieser Stelle sei jedoch darauf hingewiesen: Mit der Höhenkrankheit darf man nicht spaßen. Eine mehrtägige Akklimatisation ist empfehlenswert, doch wem das aus irgendwelchen Gründen versagt bleibt, sollte genau auf die Symptome – bleierne Müdigkeit, Kopfschmerzen, Atemnot, Unwohlsein – achten, sich dann sofort in tiefer gelegene Regionen begeben und am nächsten Tag einen neuen Versuch starten.

Die „Tutelares“ aus dem Jahr 1993 sind gewaltige Wüsten-Monumente des chilenischen Bildhauers Juan Diaz Fleming. Sie stehen nahe der Panamericana an der Kreuzung der Straße nach Ticnamar. Mit seinen bis zu neun Meter hohen, abstrahierten Menschenfiguren huldigt Fleming den Andenvölkern. Sie sollen „kosmische Kräfte“ symbolisieren und – so Fleming – die Verbindung von der Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft bilden.

Geradeaus ginge es jetzt weiter bis ins bolivianische La Paz, aber wir biegen rechts ab auf ein Teilstück der Ruta de la Misiones. Nach ein paar Stunden auf schlechteren Straßen, später zumeist Schotterpisten, erreichen wir auf rund 3800 Metern Höhe das abgelegene Bergdorf Belén, wo Christian Heinsen mit einheimischen Arbeitern und einer Handvoll „Volunteers“ aus der ganzen Welt im Prinzip dasselbe tut wie der berühmte Fleming: einen Bogen von der Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft zu schlagen – die nachhaltiger, sanfter Tourismus heißt. „Wir wollen die Gegend nicht verändern, sondern wir wollen sie aufwecken“, sagt Heinsen und zeigt auf das restaurierte, weiß getünchte, mit Pacha-Gras gedeckte Kirchlein, das am Rande des schmucken Dorfplatzes steht. Auch das Gemeindehaus und zahlreiche Wohngebäude wurden in den vergangenen Jahren saniert. „Dafür mussten wir natürlich zunächst Überzeugungsarbeit leisten“, sagt Heinsen, „aber nach und nach fassten die Einheimischen Vertrauen in unser Vorhaben. Heute wissen sie, dass sie dazu beitragen, einen touristischen Schatz zu bewahren.“

Für die Aymara ist die Kirche ein Herz, das man wieder zum Schlagen bringt

Im Grunde eine aberwitzige Situation: Denn da waren Architekten und Ingenieure sowie Handwerker aus der Stadt am Meer auf die Hochebene gekommen, um ausgerechnet den Nachfahren der indianischen Ureinwohner zu zeigen, wie man Gebäude mit den Materialien der Region restaurieren kann, zum Beispiel mit den ungebrannten Lehmziegeln, Adobes genannt, die diese schon vor über 4000 Jahren zum Bauen verwendet hatten. „Wir haben voneinander gelernt und dabei gegenseitig profitiert“, sagt Heinsen. bescheiden, dem es sichtlich unangenehm ist, dass ihm eine der wettergegerbten Alten auf dem Dorfplatz die Hand küsst.Hinzuzufügen ist, dass die uralte traditionelle und billige Bauweise („Überall, wo arme Menschen leben, gibt es komischerweise auch Adobe“, sagt Heinsen) dank einer Kooperation mit der Ingenieurwissenschaftlichen Fakultät Leipzig mit einer speziellen Holzkonstruktion – ähnlich dem deutschen Fachwerk – zusätzlich erdbebensicher(er) gemacht werden konnte.

So ist Belén wohl so etwas wie ein geschliffenes Juwel, ein Vorzeigedorf des Altiplano. Sogar private Unterkünfte und ein Restaurant gibt es inzwischen hier; das Andendorf wird außerdem alljährlich im Oktober zum Spielort des „Arica Nativa“-Filmfestivals. Es leuchtet ein, dass die Arbeit als Hotelier, Gastwirt, Ladenbesitzer, Ziegenkäse-Produzent oder Fremdenführer auf die Dauer befriedigender sein könnte als etwa die traditionell mies bezahlte Schufterei in einer Fischfabrik oder auf einer Werft unten an der Küste. „Für die Aymara ist ihre Kirche ein altes Herz, das man wieder zum Schlagen bringt“, sagt Heinsen, den es am meisten befriedigt, zu sehen, dass der Exodus der Einheimischen zum Teil gestoppt werden konnte und sich einige der eben noch (fast) verlassenen Bergdörfer zunehmend wieder mit Leben füllen. Dazu gehört auch, dass in einigen Orten des Altiplano inzwischen auch wieder die farbenprächtigen kirchlichen Umzüge veranstaltet werden – wie zum Beispiel San Pedro de Guañacagua am 29. Juni, Santiago de Belén (25. Juli), San Francisco de Socoroma (4. Oktober) oder Virgo de los Remedios in Timalchaca am 21. November, Feste mit ordentlich Tanz und Panflötenmusik sowie Alpaka- und Lamasteaks vom Grill.

Und zwischen all diesen Dörfern sorgt das spektakuläre chilenische Hochland für einen allgegenwärtigen Natur-Overkill, der die Strapazen der abenteuerlichen, häufig stundenlangen Fahrten auf den schlaglochübersäten Schotterpisten auf bis zu 4700 Metern über null zur Nebensache degradiert. Verteilt über Hunderte von Quadratkilometern – unter anderem im „Parque Nacional Lauc“ und dem südlich gelegenen „Reserva Nacional Las Vicuñas“ – reihen sich zahllose natürliche Sehenswürdigkeiten aneinander: Salzseen, in denen rosafarbene Flamingos herumstaksen (und wo es weitere 130 zum Teil seltene Vogelarten zu entdecken gibt), heiße Schwefelquellen (am „Salar de Surire“), in denen man baden kann, Lama-, Alpaka- und (selteneren) Vikunjaherden, die sich die spärliche Vegetation mit putzigen Visachas (einer Chinchilla-Art) teilen, nicht selten hungrig beäugt vom Andenschakal. Die grandiose Landschaft wechselt je nach Tageszeit ihre Farben und ist von den höchsten Vulkanen der Erde umrahmt, die teilweise noch aktiv sind.

31 Kirchen hat die „Stiftung Altiplano“ bisher restauriert, 59 liegen theoretisch noch vor den Baumeistern – wenn ihr das Geld nicht ausgeht. Der Tourismus könnte mit dazu beitragen, dass genau das nicht passiert.