Der Stadt-Geograf Michael Waibel hat in Vietnam gelebt, gearbeitet und gelehrt. In einem Fotoband wirft er einen neuen Blick auf Ho-Chi-Minh-City.

Hamburg/Ho-Chi-Minh-City. Kommunist ist nicht gleich Kommunist. Wer wüsste das besser als ein Wissenschaftler aus dem Heimatland von Karl Marx? Der Hamburger Wissenschaftler Dr. Michael Waibel (Institut für Geographie der Universität) hat mit den feinen Unterschieden zwischen der chinesischen und der vietnamesischen Lesart der Staatsführung eigentlich nicht viel zu tun. Doch als Stadtforscher hat Waibel einen Blick für Menschen und ihr Lebensumfeld. Anders als in seinen wissenschaftlichen Werken hat der 44-Jährige in einem beeindruckenden Bildband jetzt einmal Bürger und Architektur in der vietnamesischen Megacity Saigon in den Fokus genommen.

In Hanoi, der Hauptstadt des Landes, sagt man politisch korrekt Ho-Chi-Min-City. Das ist der offizielle Name, seit die Nordvietnamesen das von den Amerikanern hektisch verlassene Saigon im Süden 1975 erobert haben. Die Bürger von Saigon – mehr als jeder Zehnte der etwa 90 Millionen Vietnamesen lebt hier – lassen sich den „neuen“ Namen nur ungern aufdrücken. Natürlich verehren auch sie Onkel Ho (1890 bis 1969), den Revolutionär und Präsidenten aus Nordvietnam. Doch in HCMC leben die stolzen Vietnamesen mit einem „inneren Widerstand“, der quasi zu ihrer DNA gehört.

Der Geograf Waibel erklärt das mit der jahrhundertealten Erfahrung von Besatzung. Die Franzosen zogen schon Mitte des 19. Jahrhunderts durch das subtropische und tropische Land am Mekong. Sie hinterließen heute noch erhaltene Bauwerke im Zuckerbäckerstil, Kirchen, das berühmte Postamt von Saigon und viele Fassaden der Kolonialzeit. Die Chinesen übten großen Einfluss aus, dann natürlich die Amerikaner, die in den Vietnamkrieg eingriffen.

Der Vietcong, die Untergrundarmee der Vietnamesen, leisteten den Amerikanern hartnäckigen Widerstand – trotz der Überlegenheit der US-Truppen. Der Krieg ist noch heute präsent im Süden, sei es durch Tausende Versehrte, durch Umweltschäden und natürlich die vielen Mahnmale. Erst US-Präsident Bill Clinton reichte den Vietnamesen Mitte der neunziger Jahre die Hand zur Versöhnung.

Seitdem arbeiten Bürger beider Länder auch durch touristischen Austausch ihre jüngste gemeinsame Geschichte auf. Heute laufen viele US-Besucher durch Saigon, diesmal als erbetene Gäste. Viele sind auch Nachkommen von Amerikanern, die in Vietnam gekämpft haben.

Sie sehen eine Megacity. Nach Uno-Definition ist der Begriff erst ab zehn Millionen Einwohnern gerechtfertigt. Und Saigon werden rund acht Millionen Bürger zugeschrieben. Doch der Hamburger Stadtforscher Waibel, der lange und oft in Saison war, dort forschte und lehrte, weist auf neue Satellitenbilder hin. Sie zeigen, dass die Stadt längst über ihre ursprünglichen Grenzen hinausgewachsen ist. Sie flutet das Mekong-Delta mit neuen Häusern, ihren Bewohnern, den Straßen. „Die Wachstumsdynamik ist unglaublich“, sagt Waibel.

Die Wohlhabenden, die es in der Vorstellung einer alleinherrschenden kommunistischen Partei eigentlich nicht geben sollte, ziehen aus der inneren City in luxuriöse Wohnungen am Rande der Stadt. Hunderttausende Arbeitsmigranten wandern in die boomende Metropole. Sie wohnen zu dritt oder viert auf sechs und sieben Quadratmetern. Arbeit finden sie in der Textil- und Elektrobranche.

Anders als in China gibt es eine überschaubare Zahl von Hochhäusern. In großen Teilen von Saigon herrscht quasi ein dörfliches Leben, weil die niedriggeschossigen Gebäude sich nach Straßenverläufen anordnen, die Strukturen von Reisfeldern nachzeichnen. „Gated Communities“, Luxusgettos wie in China oder Südamerika, finden sich hier nicht.

Doch es gibt einige Superreiche. Nach dem Beitritt zur Welthandelsorganisation 2007 gab es noch einmal einen wirtschaftlichen Schub für Vietnam, von dem der Süden extrem profitiert hat. Ausländische Direktinvestitionen wurden möglich. Außerdem schicken die Exil-Vietnamesen aus Kalifornien jedes Jahr Milliarden in die alte Heimat. „Fast allen geht es besser als vor 20 Jahren“, sagt Forscher Waibel. Allerdings war die Quote der Autos im Verkehr in den Siebzigern höher als heute. Doch es gibt Millionen von Mopeds auf den rund um die Uhr verstopften Straßen von Saigon. Dementsprechend ist die Zahl der Verkehrstoten im Land auffällig hoch.

Das Stadtbild wandelt sich schnell. Und es ist zu befürchten, dass Saigon eine ähnliche Entwicklung nimmt wie andere südostasiatische Städte, die einen kolonialen Kern haben. „Machen Sie die Augen auf im Stadtbild, wenn Sie hinfahren“, rät Waibel. Als Tourismusland boomt Vietnam derzeit. Die Gäste kommen nicht nur aus den USA, sondern auch aus Australien, Japan und aus Europa. Russen sind an den Badestränden ebenfalls häufig gesehene Touristen.

Der Hamburger Vietnam-Experte Waibel empfiehlt: „Es ist extrem spannend. Man sollte jetzt nach Saigon reisen, bevor es möglicherweise so langweilig wird wie Singapur.“

Michael Waibel/Henning Hilbert (Autoren und Herausgeber): TP. Ho Chi Minh: MEGA CITY. Times Publishing House. Der Band wurde unter anderem gefördert vom Goethe-Institut, vom Bundesbildungs- und Forschungsministerium (BMBF) und weiteren Sponsoren.