Eine Reise durch Nord- und Zentralvietnam: Spektakuläre Landschaften, Paläste aus der Kaiserzeit und die lebhafte Metropole Hanoi

Wenn plötzlich aus den Nebelschwaden bizarr geformte Felsnadeln auftauchen, die aus dem grüngrauen Meer als winzige Inseln 20 oder 30 Meter in den Himmel ragen und an diesem regnerischen Morgen fast in die tief hängenden Wolken zu stechen scheinen, dann bin ich geneigt, die Geschichte von dem Drachen zu glauben, die uns Hua gestern erzählte. Der warme Regen trommelt monoton auf das hölzerne Deck der „Au Co“, eines luxuriösen kleinen Kreuzfahrtschiffes, das seit gestern Mittag langsam zwischen den vielen Inseln der Halong-Bucht hindurchgleitet. Ich stelle mir vor, wie der riesige Drache vor Urzeiten vom Himmel herabgestiegen ist und dabei diese unglaubliche Meereslandschaft geschaffen hat, die ganz und gar verzaubert wirkt. Hua hat uns von Königen und Kriegern erzählt, von Geistern und von blutigen Kämpfen, in die der gewaltige Drache eingriff, als er vom Himmel kam, dabei mit seinem Schwanz in alle Richtungen peitschte und aus einem massiven Berg jene Meereslandschaft mit ihren mehr als 3000 Inseln schuf, die weltweit zu den großen Naturwundern zählt. 1994 nahm die Unesco die 1553 Quadratkilometer große Bucht im Golf von Tonkin in die Liste des Weltnaturerbes auf.

An der Bar unter dem Schutzdach im hinteren Bereich der „Au Co“ lasse ich mir einen köstlichen vietnamesischen Kaffee servieren, der aus einem Metallfilter in ein Whiskyglas tröpfelt, dessen Boden mit gezuckerter Kondensmilch bedeckt ist, und beobachte, wie die malerischen Dschunken zwischen den Inseln hindurchfahren. Unser Guide Hua, der sich neben mich setzt, hat in den 1980er-Jahren als Vertragsarbeiter in der DDR gelebt. In dieser Zeit hat er deutsche Schlager lieben gelernt, die er während der langen Busfahrten mit Inbrunst und großem Ernst zu Gehör bringt. „Diese Insel“, sagt er und zeigt auf ein sehr großes Eiland, das sich rechts wie ein riesiger Bienenkorb hoch aus dem Meer erhebt, „heißt Titow. Du weißt schon, nach dem sowjetischen Kosmonauten.“ Als Parteichef Ho Chi Minh 1962 mit dem Raumfahrer bei einer Besuchsreise auf dem höchsten Punkt der Insel stand, um ihm die Schönheit der Halong-Bucht zu zeigen, sei der Russe so begeistert gewesen, dass „Onkel Ho“ spontan entschied, die Insel nach ihm zu benennen.

Während dieser Reise regnet es ziemlich viel, obwohl die Regenzeit im September eigentlich vorbei ist. Doch in Indochina hat der tropische Regen nichts mit dem trostlosen Hamburger Schietwetter zu tun, er ist warm und taucht die Landschaft in eine geheimnisvolle und melancholische Stimmung. Zum Beispiel in Hoi An, einer der schönsten historischen Städte in Zentralvietnam, die wir tags darauf von Da Nang aus erreichen. Chinesen und Japaner haben den Ort an der Mündung des Thu-Bon-Flusses im 16. Jahrhundert in Beschlag genommen, Handelsniederlassungen und eigene Viertel gegründet.

Da der Fluss im 18. Jahrhundert immer mehr versandete, verlor der Handel an Bedeutung, und die einst international bedeutende Stadt wurde zu einem verlassenen und weithin vergessenen Provinznest. Das erweist sich heute als Glücksfall, denn dadurch blieb die historische Architektur weitgehend erhalten. Östlich der Japanischen Brücke, die einen Nebenarm des Thu-Bon-Flusses überspannt und als das eigentliche Wahrzeichen der Stadt gilt, erstreckt sich das historische Quartier, dessen Gassen von Tempeln, luxuriösen Kaufmannshäusern und den Versammlungshallen der chinesischen Kaufmannsvereinigungen gesäumt werden. Heute ist Hoi An touristischer Hotspot mit zahllosen Cafés, Restaurants und Souvenirläden, in denen zum Beispiel die hier gefertigten Lampions angeboten werden.

Essen spielt in Hoi An eine besonders große Rolle, so werben zahlreiche Kochschulen um Kundschaft. Wir haben bei der Red Bridge Cooking School gebucht und werden von einer kleinen, aber resoluten Köchin erst einmal über den Markt geführt, wo sie uns frische Zutaten zeigt und erklärt – von Fisch und Fleisch über nie gesehene Früchte bis hin zu Gewürzen wie Zitronengras, Chili, Sternanis und süßes Basilikum. Dann stehen wir in einer offenen Hütte am Fluss aufgeregt vor den propangasbetriebenen Kochplatten und versuchen Schritt für Schritt nachzukochen, was uns die kleine Köchin am „Lehrertisch“ vorkocht. Das klappt ganz gut, die von uns fabrizierten Frühlingsröllchen mit Glasnudel- und Schweinefleischfüllung schmecken vorzüglich – ohne Anleitung zu Hause nachkochen könnte ich die vietnamesischen Spezialitäten allerdings kaum.

Kriegsschäden sind beseitigt, die Verbotene Stadt ist wiederhergestellt

In Hue, der alten Kaiserstadt zwei Autostunden nördlich von Da Nang, ist es mit dem Regen endlich vorbei. Der Himmel zeigt sich postkartenblau, und die Sonne sticht so stark, dass wir für jedes Stückchen Schatten dankbar sind. Die wehrhafte Zitadelle mit dem weithin sichtbaren Flaggenturm umschließt die alte Residenz mit dem Palastbezirk, in dem die Herrscher der Nguyen-Dynastie von 1802 bis zur Abschaffung der Monarchie 1945 lebten. Viele der prächtigen Tempel, Paläste und Pavillons wurden zwar bei einem verheerenden Brand 1947 zerstört, und auch während des Vietnamkriegs gab es in Hue große Verluste, aber die meisten Gebäude sind wieder rekonstruiert worden, sodass sich der alte Glanz der Verbotenen Stadt längst wieder zeigt.

Am Ufer des Parfüm-Flusses fahren wir zur Thien-Mu-Pagode, deren 21 Meter hoher Turm sich malerisch im Fluss spiegelt. In dem auf einer Anhöhe gelegenen Bezirk steht ein buddhistisches Kloster, das schon im 16. Jahrhundert gegründet wurde. Ein schauriges Relikt der Zeitgeschichte lockt täglich viele vietnamesische Besucher an: In einer nach vorn hin offenen Garage steht jener blaue Austin, mit dem der Mönch Thich Quang Duc am 11. Juni 1963 nach Saigon fuhr. Er hielt mitten auf einer belebten Straßenkreuzung, stieg aus, übergoss sich mit Benzin und setzte mit seiner Selbstverbrennung ein Fanal gegen die anti-buddhistische Politik der Regierung des katholischen Präsidenten Ngô Đình Diêm, der von 1955 bis 1963 in Südvietnam als Marionette der USA herrschte. Das Foto des brennenden Mönchs ging um die Welt.

In Hue wütete 1968 während der vom Norden gestarteten Tet-Offensive die wohl blutigste Schlacht des Vietnamkriegs. Heute spürt man vor allem die Bemühungen, die letzten Wunden von damals zu heilen. Wenn wir mit der Fahrrad-Rikscha im chaotischen Stadtverkehr begleitet von Heerscharen drängelnder und hupender Mopedfahrer unterwegs sind, sehen wir fast nur junge Gesichter. Etwa 50 Prozent der heute 89 Millionen Vietnamesen sind jünger als 20 Jahre, haben den Krieg selbst nicht mehr miterlebt.

Anders als der 61 Jahre alte Pham Ba Vinh, der uns in seinem wunderschönen, aus mehreren Häusern und Pavillons bestehenden Anwesen unweit des Flusses empfängt. „Hier lebte früher mein Großvater, der von 1916 bis 1925 Minister bei Khai Dinh, dem vorletzten Kaiser, war“, sagt der Architekt, der im Gegensatz zu vielen seiner Familienangehörigen die Wirren des Krieges überlebt hat und nach Hue zurückgekehrt ist. Nachdem er das Familiengrundstück wieder beziehen konnte, hat er die historische Architektur restauriert, hat Teile von 24 abgerissenen Holzhäusern integriert und ein Refugium geschaffen, das aus der Zeit gefallen scheint. Nun empfängt er hier Einheimische und Touristen, serviert Tee und erzählt davon, wie er dieses Geschichtszeugnis für die Zukunft bewahrt hat.

Der Rote Fluss speist einen See mitten in Hanoi – ähnlich Hamburgs Alster

Der Flug vom nagelneuen Airport von Da Nang nach Hanoi dauert nur eine Stunde, die Fahrt zum Hotel durch den chaotischen Verkehr der Sieben-Millionen-Metropole etwa ebenso lang. Aber trotz seiner hektischen Geschäftigkeit, trotz der ewig hupenden Autos und drängelnden Mopeds wirkt die vietnamesische Hauptstadt schon auf den ersten Blick freundlich und anziehend. Immer wieder entdecke ich am Straßenrand Refugien der Ruhe inmitten des Trubels: ein kleiner Park mit Bänken, ein Straßencafé, vor dem Einheimische auf niedrigen Plastikstühlchen sitzend Kaffee trinken, ein Ahnenaltar, vor dem Räucherstäbchen abbrennen.

Von der Dachterrasse des City-View-Cafés bietet sich ein Panoramablick auf das bunte Treiben rund um den Hoan-Kiem-See, der vom Roten Fluss gespeist wird und sich – ganz ähnlich wie die Alster in Hamburg – inmitten der Stadt erstreckt. Liebespärchen spazieren am Ufer entlang, weißhaarige Greise sitzen auf Bänken und spielen eine vietnamesische Schach-Variante, Kinder rennen einem Ball hinterher. Von hier oben ist der malerische Schildkrötenturm auf einer Insel im See gut zu erkennen. Unser Guide Hua hat am Vormittag die Legende von der goldenen Schildkröte erzählt, die vor Jahrhunderten während der chinesischen Besatzung aus dem See aufgetaucht sei, um dem armen Fischer Le Loi ein magisches Schwert zu übergeben, das ihn im Kampf gegen die Besatzer unbesiegbar machte. Tatsächlich fand man 1968 eine mehr als zwei Meter lange und 250 Kilogramm schwere Schildkröte im See, die angeblich 400 Jahre alt war. Heute ist sie ausgestopft und unter Glas in der Jadebergpagode auf einer kleinen Insel zu bewundern, die man über die knallrote The-Huc-Brücke erreicht.

Am Nebentisch nimmt jetzt eine kleine Gruppe junger Amerikaner Platz und bestellt eine Runde Tiger-Bier. Amerikaner sind in Vietnam oft anzutreffen, College-Studenten mit Rucksäcken, weißhaarige Bildungs-Touristen, wohlhabende Ehepaare, aber auch ehemalige GIs. Sie sind neugierig, manchmal ziemlich laut und scheinen an der Last der jüngeren Geschichte nicht sonderlich schwer zu tragen. Die jungen Männer am Nebentisch unterhalten sich über das „Hilton Hanoi“, wie das grausige Hoa-Lò-Gefängnis in der Innenstadt genannt wird. Die Franzosen haben es erbaut, später inhaftierten die Nordvietnamesen hier die abgeschossenen amerikanischen Bomber-Piloten. Der republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain gehört zu den prominenten Ex-Häftlingen, an die in der heutigen Ausstellung erinnert wird. Da ist viel Propaganda im Spiel, aber die historischen Filme, die in den ehemaligen Zellen über Monitore flimmern, machen deutlich, was für ein Trauma der Vietnamkrieg für die Menschen gewesen ist.

Vergangenheit und Gegenwart sind mittlerweile in Einklang gebracht

Die bildhübsche junge Kellnerin, die den fünf Amerikanern ihr Tiger-Bier serviert, gibt ihnen in vorzüglichem Englisch Tipps für die Stadtbesichtigung. Sie empfiehlt, ein Taxi zum Literaturtempel zu nehmen, diesem Komplex aus Pavillons und Pagoden, in dem vom elften bis ins 20. Jahrhundert die geistige Elite des Landes ausgebildet wurde. Als ich mich vor ein paar Stunden dort umsah, war ich beeindruckt und ziemlich demütig angesichts der enormen Wertschätzung, die dieses Volk seit fast einem Jahrtausend Bildung, Wissenschaft und Weisheit entgegenbringt. Eigentlich würde ich gern noch einmal dorthin, um in Ruhe den Stelengarten mit dem See des Himmlischen Lichts zu betrachten und die steinernen Schildkröten, die während des Vietnamkriegs von einem schützenden Betonmantel umgeben waren.

Aber dafür reicht die Zeit bis zum Rückflug nicht aus, so nehme ich mir eine Fahrrad-Rikscha und lasse mich noch einmal durch die engen Gassen der Innenstadt fahren, vorbei an der wuchtigen Zitadelle und der katholischen St-Joseph-Kathedrale, die mit ihrer neogotischen Architektur von der französischen Kolonialzeit kündet. Unendlich viel zu sehen gibt es auf dieser gemächlichen Fahrt: Garküchen und winzige Fahrradreparatur-Werkstätten, taoistische Tempel und Ahnenschreine, eine Wäscherei und ein Antiquitäten-Lädchen, ein Café und ein Laden für Propagandaplakate. Dort sehe ich im Vorbeifahren, wie pragmatisch Vietnam heute Vergangenheit und Gegenwart in Einklang bringt: Neben einer großen Kollektion von Ho-Chi-Minh-Bildern und Propaganda-Postern aus längst vergangenen Zeiten gibt es auch amerikanische Flaggen zu kaufen.