Plovdiv ist ein Traum für Flaneure. Prägende Bauwerke aus der Römerzeit, dem Mittelalter und 40 Jahren Realsozialismus liegen hier nur wenige Schritte auseinander.

Plovdiv. Auch nach fünf Jahren EU-Mitgliedschaft hat Bulgarien als Reiseland einen schweren Stand. Zu einer gewissen Bekanntheit hierzulande haben es vor allem die Orte Goldstrand und Sonnenstrand gebracht, auch "Ballermann am Schwarzen Meer" genannt. Dabei hat Bulgarien mehr zu bieten als maximale Party zu minimalen Preisen. Eine Zeitreise auf engstem Raum zum Beispiel, die man so in Westeuropa nirgendwo unternehmen kann.

Ein Spaziergang durch Plovdiv gleicht einem Streifzug durch die Jahrhunderte. In Bulgariens zweitgrößter Stadt, die einst wie Rom auf sieben Hügeln errichtet wurde, haben römische und türkische Herrscher ebenso deutlich ihre Spuren im Stadtbild hinterlassen wie armenische Kaufleute und sozialistische Baumeister.

Das Wahrzeichen der Stadt, ein gut erhaltenes, antikes Amphitheater, wurde Ende der 70er-Jahre zufällig bei Bauarbeiten entdeckt. Die Römer hatten im zweiten Jahrhundert die imposante Arena für mehr als 6000 Besucher bauen lassen. Genutzt wird sie noch heute: Jeden Sommer füllen sich die Ränge, wenn auf der Bühne unter freiem Himmel Theater gespielt wird.

Wer den kurzen, aber heftigen Anstieg zum Amphitheater bewältigt hat, kann sich mit einer frisch zubereiteten Zitronade stärken und wird mit einem fantastischen Blick auf die tiefer liegenden Stadtviertel belohnt. In dem kleinen Café direkt oberhalb des Theaters treffen einheimische Kunststudenten, die vom Campus ihrer Hochschule herüberkommen, auf ausländische Touristen und Spaziergänger. Die Atmosphäre ist international.

Allein die Aussicht lässt Besucher nachvollziehen, was den griechischen Dichter Lukian einst in Verzückung geraten ließ, als er schrieb: "Die Stadt ist die schönste, die ich bisher gesehen habe. Schon aus der Ferne glänzt sie mit ihrer Schönheit." Als Lukian im zweiten Jahrhundert sein Urteil traf, konnte er nicht voraussehen, wie unterschiedlich die jeweiligen Machthaber in Bulgarien den Begriff der Schönheit im Laufe der Zeit interpretieren würden.

Mit ein bisschen Fantasie bilden die Säulen des Amphitheaters ein Fenster, durch das man am Horizont riesige Plattenbauten der jüngeren Stadtviertel erkennen kann. Weiter vorn zieht die Silhouette des 1956 erbauten Hotels Trimontium die Blicke auf sich. Der Komplex mit zwei Schwimmbädern, Panorama-Bar, Kasino und drei Restaurants war lange Zeit nur Parteikadern vorbehalten. Den Glanz vergangener Tage kann erahnen, wer das aufwendig mit Gold, Marmor und Spiegeln verzierte Vestibül betritt. Auf den zweiten Blick fällt auf, wie altersschwach das Mobiliar wirkt. Auch die roten Teppiche, die in langen Korridoren die Schritte der Gäste dämpfen sollen, sind inzwischen fadenscheinig. Besuchern sei die Herberge dennoch empfohlen - obwohl oder gerade weil sie ein wenig wie die Kulisse eines Agentenfilms wirkt.

Vom Amphitheater aus lässt sich leicht die Altstadt erkunden. Besonders schön ist der Spaziergang im Frühherbst, wenn sich die drückende Hochsommerhitze gelegt hat. Seiner Lage auf fast demselben Breitengrad wie Barcelona verdankt Plovdiv auch im September angenehme Temperaturen um 20 Grad. Prächtige Bürgerhäuser mit farbenfrohen Fassaden, verziert mit Schnitzereien und aufgemalten Ornamenten erinnern an die Blütezeit der Stadt Ende des 19. Jahrhunderts. Der französische Dichter und Historiker Alphonse de Lamartine befand 1833, als er für einige Monate in der Altstadt lebte: "Eine der ausgezeichnetsten Lagen, die sich der Mensch für eine Stadt vorstellen kann." Wenig später setzte ein regelrechter Bauboom ein. Reiche Händler, Bankiers, Gelehrte und Kaufleute ließen sich damals bevorzugt in dem Viertel nieder, dem schmale kopfsteingepflasterte Gassen, eine schmucke orthodoxe Kirche und liebevoll angelegte Gärten einen geradezu dörflichen Charme verleihen. Wer möchte, kann in fast jedes Haus einen Blick werfen. Die meisten sind samt Interieur erhalten und für Besucher zugänglich.

Auch über die Biografie der Bauherren kann man viel erfahren. Die Mehrzahl der Bewohner unterstützte die Unabhängigkeitsbewegung, die 1878 in der Gründung des bulgarischen Nationalstaates gipfelte. Einige Räume im beeindruckend großen Haus des Kaufmanns Dimitar Georgiadi dienen heute als Museum, das die nationale Wiedergeburt, wie die Zeit des Freiheitskampfs genannt wird, dokumentiert. Außerdem können Kaffeestube, Kontor und Empfangsdiele des ehemaligen Hausherrn besichtigt werden.

Georgiadis Nachbarn Stepan Hindlyan war bei der Einrichtung seines Hauses nur das Beste gut genug: Marmor, Möbel und Tapeten aus Istanbul, Venedig, St. Petersburg und Stockholm schmücken die Ausstattung. Die Krönung jedoch ist das Badezimmer: Während sich die Mehrzahl der Plovdiver damals noch an öffentlichen Brunnen mit Wasser versorgen musste, sprudelte es 1840 in Hindlyan-Haus warm und kalt aus dem Hahn.

Während die Altstadt früher ein pulsierendes Wohn- und Geschäftsviertel war, bevölkern heute vor allem Touristen mit Digitalkameras das Quartier, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Um einen Moment Ruhe zu genießen, sollte man es dem einen oder anderen Kätzchen gleichtun, in einem der traumhaft schönen Innenhöfe im Schatten von Feigen und Walnussbäumen Platz nehmen und einfach in die Sonne blinzeln. Unbedingt sollten Spaziergänger einen Abstecher in eine der orthodoxen Kirchen einplanen, die mit ihren aufwendig gestalteten Ikonostasen und in kräftigen Farben leuchtenden Wandgemälden für Westeuropäer ein wenig exotisch wirken. Wer möchte, kann wie die Bulgaren für ein paar Cent Kerzen für seine Lieben anzünden. Am Abend strömen Besucher und Einheimische gleichermaßen in die lauschigen Altstadt-Restaurants. Die kyrillischen Buchstaben muss niemand fürchten, in den meisten Lokalen lassen sich regionale Spezialitäten wie Shopska-Salat, Schaschlik im Tontopf und Baklava problemlos auf Englisch bestellen.

Steigt man nun wieder hinab ins Tal, ist am Fuß des Berges ein ziegelrot gemauertes Türmchen zu sehen, das sich als Minarett entpuppt. Daneben spannen sich neun metallen glänzende Kuppeln über die Dzhumaya-Moschee. Das Gotteshaus wurde im 14. Jahrhundert auf den Trümmern einer christlichen Kirche errichtet. Die muslimischen Sultane, die 500 Jahre auf dem Balkan herrschten, ließen gegenüber Juden, Katholiken und christlich-orthodoxen Gläubigen eine gewisse religiöse Toleranz walten. Die Dzhumaya-Moschee, die zu den ältesten auf dem Balkan zählt, ist mehr als ein Baudenkmal: Sie dient nach wie vor als Treffpunkt der muslimischen Gemeinde, die die größte religiöse Minderheit des Landes darstellt.

Aber auch Nachtschwärmer kennen das Gotteshaus ganz genau. Denn die Moschee liegt direkt an Plovdivs Prachtmeile, dem Alexander-Battenberg-Boulevard. Der Spaziergang durch die Zeit führt hier mitten ins 21. Jahrhundert und vielleicht in eine der zahlreichen Kneipen, Klubs und Bars, aus denen bis in die frühen Morgenstunden Balkanpop tönt. Sich ausgiebig amüsieren - das geht nicht nur am Goldstrand.