Traumhafte Buchten und weiße Sandstrände gibt es nicht, dafür den aufregenden Abstieg in den “Vorhof der Hölle“.

Nissiros. Noch hängt schwacher Morgendunst über dem Hafen von Kos, doch die ersten Sonnenstrahlen wärmen bereits den Tag. An der breiten Hafenstraße rücken die Tavernenwirte Tische und Stühle zurecht und gegenüber, auf der Promenade am Kai, gehen die Ticketverkäufer in Stellung. Dicht gedrängt liegen dort die Ausflugsschiffe nebeneinander. "Die meisten Urlauber, die nach Kos kommen, wollen hinüber nach Bodrum in der Türkei - zum billigen Einkaufsbummel", sagt Georgios. Die Ausflugsfahrt, für die er an diesem Morgen um Fahrgäste wirbt, scheint nicht so gefragt zu sein: Das Schiff zählt, als die Leinen gelöst werden, kaum mehr als 50 Passagiere.

Vielleicht liegt es am etwas stürmischen Wetter. Zwei Stunden schaukelnde Überfahrt. Zum Glück wird der Wind gerade von einer weißen Felswand abgefangen, die im Sonnenlicht wie ein überdimensionales Segel aus dem Wasser ragt - die Insel Giáli mit ihren schneeweißen Bimssteinbrüchen, nur um wenige Hundert Meter von Nissiros entfernt.

Nissiros und Giáli gehören zur Inselgruppe des Dodekanes, jenem griechischen Archipel zwischen Samos und Rhodos, der aus zwölf größeren und mehr als 30 winzigen, oft namenlosen Eilanden besteht. Mit nur 41 Quadratkilometern (ca. 1200 Einwohner) ist Nissiros eine der kleinsten in der Inselkette vor der türkischen Küste. Verständlich, dass der Pauschaltourismus bisher fast spurlos an ihr vorbeigegangen ist. Er würde sich vermutlich auch in Grenzen halten, denn die Insel verfügt weder über weiße Sandstrände, noch lässt ihre Topografie den Bau größerer Hotels oder Ferienanlagen zu. Nissiros ist ein Vulkan, der einzige noch aktive in ganz Griechenland. Terrassenförmig steigt die fast kreisrunde Insel aus dem Meer, ihre Wände türmen sich in 700 Meter Höhe zum Kraterrand, um dann senkrecht abzustürzen - in eine Caldera, die den größten Teil der Insel bedeckt.

Immerhin: Der Vulkan hat den Bewohnern von Nissiros in den letzten Jahren einen bescheidenen Wohlstand beschert. "Früher mussten die Menschen auf der Nachbarinsel Giáli den weißen Bimsstein abbauen, um leben zu können. Das war harte Knochenarbeit", sagt Nikos. "Heute ist das zum Glück nur noch ein Nebengeschäft für uns. Vor allem in den Sommermonaten können wir gut von den vielen Ausflüglern leben, die von den Nachbarinseln Kos und Rhodos zu uns kommen - nur um einmal kurz in den Vulkankrater zu steigen."

Nikos ist Taxifahrer auf Nissiros. Jeden Vormittag steht er mit seinem Wagen am Hafen von Mandráki, dem Hauptort der Insel, und wartet auf Gäste. Der Ausflugsdampfer von Kos ist an diesem Morgen der erste, der am Kai von Mandráki festmacht; von Rhodos, so erzählt Nikos, werden drei weitere Schiffe erwartet. Ab elf Uhr ist es dann vorbei mit der ereignislosen Stille auf der Vulkaninsel. Da versammelt sich im Hafen von Mandráki alles, was Räder hat: Beinahe in Kolonne karren Taxis und Inselbusse die Tagesausflügler hinauf in den Krater. Auf der Talsohle ein Hauch von apokalyptischem Inferno: Es riecht nach Schwefel, heiße Dämpfe kriechen über den Erdboden. Rauchschwaden zischen fauchend aus Fumarolen, kochendes Wasser blubbert und brodelt in gelben Schlammtümpeln. Der Ausflug in den Vorhof der Hölle ist heute ein harmloses Abenteuer. 1873 ist der Vulkan zum letzten Mal ausgebrochen. Seitdem, da sind sich die Experten sicher, geht von ihm keine Gefahr mehr aus.

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Drei, vier Stunden Zeit bleiben den Tagestouristen für den Ausflug auf die Vulkaninsel. Die Gluthitze auf dem Grund des Kraters hat die meisten durstig gemacht. Sobald der Bus sie wieder am Hafen von Mandráki absetzt, strömen sie in Scharen in den Ort, bummeln durch die engen Gassen zur Platia, wo sich zahlreiche Restaurants mit blau-weiß karierten Tischdecken in den Schatten uralter Bäume ducken. Oder sie füllen die Tavernen am Strand. Nur wenige Urlauber schaffen noch den Aufstieg zu den antiken Sehenswürdigkeiten der Insel - zu dem venezianischen Johanniterkastell auf den Mauern der alten hellenistischen Stadt oder zur Klosterkirche Panagia Spillani.

Schon um drei Uhr nachmittags lassen die Kapitäne der Ausflugsschiffe wieder die Sirenen heulen - Zeit zur Rückfahrt. Schade, denn es wäre schön, sich jetzt in einem der kleinen Hotels für ein, zwei Tage einzuquartieren und bei Nikos am Hafen ein Auto (oder einen Motorroller) zu mieten, um die Insel etwas näher zu erkunden. Eine neue Asphaltstraße schlängelt sich vom Fischerort Páli an der Nordküste in Serpentinen hinauf in das Bergdörfchen Emporió. Schon von weitem leuchten die weißen Häuser aus dem Grün der Terrassenfelder. Umso größer die Überraschung: Emporió ist eine Geisterstadt. Auch ins Nachbardorf Nikiá direkt am Kraterrand scheinen viele Häuser unbewohnt. Das Dorf zählt zu den schönsten Orten der ganzen Ägäis. Eine schmale steile Gasse führt durch das verwinkelte Häuserlabyrinth zum Kirchplatz im Mittelpunkt des Dorfes. Der Aufstieg hat sich gelohnt: Uns liegt die ganze Insel zu Füßen. Wir sitzen im Schatten der Taverne, trinken den kühlen Frappé, den uns der Wirt serviert hat, und blicken aufs Meer, das jetzt, in der Mittagsglut, wie blauer Brokat schimmert - überzogen von einem Netz silbern glitzernder Wellen. Kein anderer Aussichtsplatz in der Ägäis könnte schöner sein.