Die Inseltour führt über Feldwege durch Korn- und Rapsfelder. Die Küste ist stets zum Greifen nahe. Nur der Wind als ständiger Begleiter lässt die Beine manchmal schwer werden.

"Mama, du hast echt 'ne Sturmfrisur", japst Ole und wird immer langsamer auf seinem blauen Kinderrad. Die Steigungen auf Rügen sind eigentlich nicht der Rede wert, käme nicht der Wind immer genau dann von vorn, wenn es bergauf geht. Papa schiebt von hinten ein bisschen mit, und zumindest pustet der Wind nun auch Oles Schuhe wieder trocken. Die sind eben im Binzer Park der Sinne auf dem Wasserspielplatz beim Kurbeln und Pumpen komplett geflutet worden. Da blieb nicht mal die Hose trocken. Aber an so etwas Triviales wie nasse Füße denkt der Sechsjährige sowieso nicht mehr, als vor ihm endlich das Jagdschloss Granitz aufragt. Ein klassizistischer Bau, quadratisch, sandfarben mit hellgrünen Zinnen an den Türmen, in der Eingangshalle Dutzende Geweihe an den Wänden. Traut sich Ole die Wendeltreppe hinauf, die sich freitragend an den Wänden des dicken Hauptturms 38 Meter in die Höhe windet, mit ornamentreich durchbrochenen Eisenstufen? Ole traut sich, aber Mama und Papa? Die Treppe macht beunruhigende metallische Geräusche, Gegenverkehr ist ganz gemein, besser nicht nach unten schauen. Doch dann entschädigt der Blick von der Aussichtsplattform für alles. "Guck mal, Papa, da hinten, ich sehe ganz viel Meer", ruft Ole. Bis zur aufgewühlten Ostsee reicht der Blick, über den sattgrünen Wald Granitz, weitläufige Weiden und goldgelb wogendes Getreide.

Wieder unten, führt der Radweg direkt durch den Buchenmischwald zum Seebad Sellin. Die reich verzierten Holzveranden der Häuser "Marion", "Gerda" und wie sie alle heißen, strahlen heute wieder in schickem Weiß, ihr kollektiver Verfall aus der DDR-Ära ist wegrestauriert.

Sellins Hauptstraße endet an einer Steilküste, zum Strand hinab führen wahlweise eine steile weiße Treppe - Ole zählt 89 Stufen - oder ein Schrägaufzug wie in Lissabons Altstadt. Unten warten noch ordentlich aufgereiht grün gestreifte Strandkörbe auf sonnenhungrige Gäste. Die weiße Seebrücke streckt sich weit ins Meer hinein. Gerade verlässt eine vornehme Hochzeitsgesellschaft das Restaurant, das auf Stelzen im Wasser steht. Der Wind trägt den Geruch von Algen ans Ufer, die Sonne blitzt einmal kurz durch die grauen Wolken. Ole buddelt bereits hingebungsvoll im feinen weißen Sandstrand nach Feuersteinen.

Die wird er hier allerdings kaum finden. Doch davon gab es ja gestern im fünf Radfahrstunden entfernten Mukran mehr als genug: Südlich von Sassnitz, zwischen einem Kiefernmischwald und dem Kleinen Jasmunder Bodden, hat das Meer bei Sturmfluten vor Tausenden von Jahren Geröllwälle aufgeschichtet. Kiefern, Stieleichen und Bergahorn wachsen darauf, Blaubeeren und Heidekraut bilden ein würzig duftendes Dickicht. Eine kurze Wanderung führt zu den Feuersteinfeldern, und prompt findet Ole seinen ersten Hühnergott, einen Feuerstein mit vom Wasser ausgespültem Loch, der Glück bringen soll. Der rumpelt jetzt zusammen mit geschätzt 20 weiteren Feuersteinen in seiner Jackentasche herum. Auf Rügen findet sich für so hemmungslose Sammler wie Ole sowieso ständig Neues zum Mitnehmen: Sein Gepäckträger transportiert vom ersten Tag an Stöcke, Baumrinden und Federn über die Insel. Rund geschliffene bunte Glasscherben sind auch schon Teil des Schatzes. Und ein halbes grünliches Ei.

Gestärkt mit einer Bratwurst von der Grillbude am Anfang der Seebrücke geht es weiter Richtung Putbus. Immer gegen den Wind natürlich. Eine Gruppe gut ausgerüsteter Freizeitradler strampelt vorbei, "Grüezi miteinand!", rufen die Männer fröhlich. An der nächsten Ampel sind sie eingeholt. "Die Landschaft und die Ostsee sind toll", sagt Peter aus Bern, "nur immer dieser Wind hier oben, der ist in der Schweiz echt gefürchtet." Die Ampel springt auf Grün, und weg sind sie, die Eidgenossen. Durch Raps- und Kornfelder führt der Weg jetzt, die Küste ist zum Greifen nahe. Über wenig befahrene kleine Landstraßen rollen die Räder, über Feldwege, manchmal auch lieber auf dem sandigen Wanderweg neben der Straße.

Reine Straßenetappen mit viel Autoverkehr sind zum Glück die Ausnahme. Wenn die Beine schlapp machen, gibt's ein Eis oder frischen Ostseehering gebraten auf die Hand. In Moritzdorf schippert ein bärtiger Fährmann die paar Meter über das Flüsschen Baaber Bek: Wenn nicht so viel los ist, im Ruderboot - in der Hochsaison dann mit dem Motor. Fünf Fahrräder hebt er in sein kleines Boot, hilft den Fahrgästen beim Einsteigen, und nach nicht mal einer Minute ist das andere Ufer erreicht.

Im Wald bei Klein Stresow klettert Ole auf den Ziegensteinen herum, einem Hünengrab, und staunt: Wie konnten die Steinzeitmenschen diese großen Felsbrocken ohne Kran und Bagger zu einer Grabanlage aufstellen? Aus der Ferne tutet immer mal wieder der Rasende Roland herüber, die beliebte Schmalspurbahn, die die Seebäder im Südosten der Insel mit Putbus verbindet. Der Radweg führt jetzt direkt an der Ostsee entlang, wo am Ufer Schwäne auf den Wellen schaukeln und in zweiter Reihe Segelboote schief im Wind hängen. In einiger Entfernung zeichnet sich die Insel Vilm ab, Erich Honeckers frühere Sommerresidenz, ein Naturschutzgebiet mit uralten Baumriesen. Höchstens 30 Gäste dürfen heute pro Tag die Insel besuchen.

Und dann ist auch diese letzte Tagesetappe geschafft. Vorbei am vornehmen Badehaus Goor mit den vielen weißen Säulen, in dem schon Otto von Bismarck und Alexander von Humboldt entspannten, radelt Ole die letzte Steigung hinauf nach Putbus, der Stadt mit den weißen Häusern. Von hier fährt ein Zug zurück nach Stralsund. Die Reisetaschen warten dank Gepäcktransport auch heute schon in der gebuchten Unterkunft. Erschöpft und stolz fällt der Erstklässler im Hotel ins Bett: In einer Woche hat er die Insel Rügen umrundet, von Stralsund über Hiddensee, Kap Arkona und die Kreidefelsen bis zu den Seebädern. Gut 100 Kilometer hat er dabei zurückgelegt. Morgen geht's zurück nach Hause. Im Koffer kullern 20 Feuersteine. Mindestens.