Kuba sucht sein Heil im Tourismus - auf Kosten vieler Revolutionsideale. Der Urlauber merkt davon wenig, wenn er nur an den Stränden verweilt.

Havanna. Aquí se queda la clara, la entrañable transparencia, de tu querida presencia, Comandante Che Guevara . . ." Die vier Musiker mit Kongas, Gitarre und Kontrabass singen das alte Propagandalied so einfühlsam, dass den Touristen nichts anderes übrig bleibt, als verträumt zu lauschen - auch wenn die meisten außer "Che Guevara" kein Wort verstehen. Derweil wird tellerweise Spanferkel aufgetischt, dazu Piña Colada und eisgekühltes Bier. Hier draußen, im Viñales-Tal, präsentiert sich Kuba ganz anders als im quirligen Havanna. Rote Erde, sattgrüne Wiesen, bizarre Kalksteinfelsen und einzelne, mit Palmenstroh bedeckte Hütten geben eine grandiose Kulisse ab - das Ganze getaucht in ein diffuses Morgenlicht. Die Luft ist noch so frisch wie eine Frühlingsbrise. Ein Bauer pflügt mit zwei Ochsen das Feld, auf der anderen Seite sprießt Tabak mannshoch aus dem fruchtbaren Boden. Am Fuße einer gut 10 000 Quadratmeter großen Felsmalerei - 1961 von einem Künstler namens Leovigildo Gonzales Morillo geschaffen - haben wir Rast gemacht. Auf dem Parkplatz stehen noch andere Busse, alle modern und voll klimatisiert. Sie gehören zu weiteren Reisegruppen, die gerade das Umland von Pinar del Rio im Westen Kubas erkunden. Busfahrer und Guides grüßen einander routiniert und plaudern, während einige Touristen in der Garküche vom saftigen Schweineschinken kosten und andere an ihrem Cocktail schlürfen. Das Einzige, was stört, ist das Fehlen einheimischer Gäste - sie könnten sich ein solches Dollar-Lokal niemals leisten. Und selbst wenn sie es könnten, würden sie ihr Geld wohl kaum hier ausgeben. Hatten wir nicht gestern erst nachgerechnet, dass ein kubanischer Arzt oder Ingenieur pro Monat so um die 500 Pesos - rund 20 US-Dollar - verdient? Hatten wir nicht über den dramatischen Verfall vieler Häuser in Havanna die Stirn gerunzelt? Und hatten wir uns nicht auch gefragt, wie es wohl ist, wenn man seine Nahrungsmittel über Bezugsschein ("libreta") erwerben muss? Schon ist es wieder da, dieses ungute Gefühl, dass man es sich als Fremder im Vergleich zu den vom Sozialismus gebeutelten Kubanern viel zu gut gehen lässt. Während wir die Serpentinen mit unserem 30-Sitzer-Volvo hinaufgekurvt sind, standen am Straßenrand Hunderte, die auf einen der schrottreifen Linienbusse oder einen noch nicht bis zum Bersten gefüllten Lastwagen warteten - und das oft stundenlang. Selbst auf der leeren Autobahn von Havanna hierher war - bis auf Leihwagen für Touristen - kaum ein Auto in technisch akzeptablem Zustand zu entdecken. "Auf dieser Insel haben viele wenig, aber keiner hat nichts", sagt ein Kuba-Kenner. "Du wirst das spätestens nach ein paar Tagen merken." Zweifel scheinen angebracht - vor allem, wenn man mit dem Wohlstandsblick eines Westeuropäers die Lage betrachtet. Aber dann kommt man doch mit den Einheimischen ins Gespräch, nicht nur auf Spanisch, sondern auch auf Englisch oder gar Deutsch. Man erfährt, dass das kostenlose Gesundheitssystem eines der besten Lateinamerikas ist. Dass die Ausbildung der Bevölkerung ganz oben auf der Prioritätenliste steht. Dass es zwar keinen Reichtum gibt, aber auch kein echtes Elend - so wie etwa in den Slums von Rio oder Bombay. Manchmal wird man aber auch gefragt, ob man nicht eine Kiste Zigarren - angeblich "echte Cohibas, direkt aus Fabrik" - kaufen wolle. Oder ein Bild, eine Muschel oder sonst irgendwas. Für ein paar Dollar sind viele Kubaner bereit, es mit den staatlichen Prinzipien nicht so genau zu nehmen. Verständlich: Seit die "sozialistischen Bruderländer" eine Kehrtwende zu Demokratie und Marktwirtschaft vollzogen und somit als linientreue Wirtschaftspartner ausfielen, wurde die ökonomische Lage von Jahr zu Jahr prekärer. Mit Zigarren und Zuckerrohr allein ist nämlich kein Staat mehr zu machen. Einen Ausweg aus der Misere, "período especial" genannt, soll der Tourismus bringen. Er erwirtschaftet heute schon 40 Prozent der Devisen und gibt rund 100 000 Kubanern direkt sowie 200 000 indirekt Beschäftigung. Etwa 1,7 Millionen harte Währung bringende Ausländer (170 000 Deutsche) verbrachten 2002 ihren Urlaub auf der Insel, in diesem Jahr hoffen die Offiziellen auf 1,9 Millionen. Sollten die USA eines Tages das Embargo aufheben und ihren Bürgern gestatten, offiziell nach Kuba zu reisen - rund 80 000 US-Amerikaner kommen pro Jahr bereits "illegal" über Drittländer wie Kanada oder Mexiko - , könnte sich die Zahl der Reisenden auf einen Schlag vervielfachen. Castro, der inzwischen 76-jährige "maximo líder", kennt die Wichtigkeit solcher Statistiken genau. Deshalb darf sein Tourismusminister Ibrahim Ferradaz den kubanischen Masterplan für die weitere Entwicklung als Urlaubsdestination mit Nachdruck umsetzen, obwohl dies nicht ohne Nebenwirkungen für die kubanische Gesellschaft ist. Schließlich hat ein Kellner, Tourbus-Fahrer oder Kofferträger mit ein paar Dollar Trinkgeld pro Tag ein besseres Einkommen als jeder Lehrer oder Arzt. Ob die geringe Kriminalität eher der Freundlichkeit der Menschen oder der hohen Polizeipräsenz zu verdanken ist, lässt sich von uns kaum klären. Sicherheit gehört zu den Vorzügen dieses Reiselandes, im Gegenzug laufen Ausländer Gefahr, in touristischen Zentren den Blick für Realitäten zu verlieren. So dürfen Kubaner zum Beispiel viele Hotel-Gebiete nur dann betreten, wenn sie dort auch arbeiten. Wochenendausflügler oder gar Fliegende Händler, wie an anderen Karibikstränden üblich, bekommt man an solchen Orten nicht zu Gesicht. Projekte wie die Urlauberinsel Cayo Santa Maria sind es, die den Tourismus weiter voranbringen sollen, nachdem Varadero als bekanntester Badeort ausgereizt scheint. Das einst menschenleere Eiland und seine Nebeninseln haben Strände, die das Prädikat traumhaft verdienen. Nun sollen dort innerhalb der nächsten acht Jahre bis zu 10 000 Hotelbetten in gehobenen Resortanlagen entstehen. Um die Inselchen ans Festland anzuschließen, wurde in zehnjähriger Bauzeit ein 45 Kilometer langer Straßendamm im Meer aufgeschüttet. Steve, ein Kanadier, der fürs Lokalfernsehen in Montreal arbeitet, sitzt im bislang einzigen Hotel an der Bar und genießt sein All-inclusive-Bier. "Meine Freundin hat das gebucht, wir bleiben eine Woche", erklärt er freimütig und ergänzt: "Schade, dass man hier gar nichts von Land und Leuten mitbekommt." Er will sich deshalb mindestens einen Ausflug gönnen und nach Santa Clara fahren. Dort war zwar schon sein Flugzeug gelandet, doch gesehen hat er von der Stadt noch nichts. Der Trip nach Santa Clara ist durchaus lohnend, vor allem, wenn man etwas über einen der Helden Kubas, den berühmten Che Guevara, erfahren will. Ihm zu Ehren wurde ein riesiges Denkmal mit Museum errichtet, weil seine Kämpfer in der Stadt einst das Schicksal von Diktator Batista besiegelten. Seit auch die Gebeine des in Bolivien getöteten Revolutionärs dort liegen, ist das Ehrenmal zur Pilgerstätte aller Che-Guevara-Jünger geworden. Neben der berühmten Fotografie des Nationalhelden - die heute auch allerlei Souvenirs schmückt - findet man dort alte Dokumente, Waffen und andere Utensilien des ehemaligen Gefährten Fidel Castros. Die zweite Gedenkstätte befindet sich am Bahnhof des Ortes: fünf alte Waggons jenes Panzerzuges, den Che Guevara und seine Mitstreiter zu Revolutionszeiten überfallen hat. Eine andere, im karibischen Meer gelegene Trauminsel ist nur per Flugzeug zu erreichen: Cayo Largo. Morgens um 8.15 Uhr steigen wir in Havanna in den Zubringer - eine zweimotorige Antonow 26, offenbar mindestens zwei Jahrzehnte alt und nicht sonderlich Vertrauen erweckend. Die Sitze sind abgewetzt, Fenster gibt es nur an den Notausstiegen. Vorne im Cockpit der Aerogaviota-Maschine arbeitet neben Pilot und Kopilot ein Navigator, der seine Daten per Rechenschieber ermittelt. Eine Stewardess schenkt - als einziges Getränk - kubanische Cola in weißen Plastikbechern aus. Immerhin: Nach 45 Minuten setzt die AN-26 butterweich auf. Schon 1962 wurde auf Cayo Largo das erste Hotel gebaut - nicht für Ausländer, sondern für verdiente Kader der Partei. Erst 20 Jahre später begann zaghaft die touristische Entwicklung, bis 2001 wurden insgesamt sieben All-inclusive-Hotels errichtet. Die Insel entpuppt sich als idealer Ort, um nach Rundreisen einen Strandurlaub anzuschließen - mit Drei- bis Vier-Sterne-Komfort und 25 Grad warmem, türkisblauem Karibikwasser. Per Katamaran entdecken wir die hiesigen Sehenswürdigkeiten: eine Leguaninsel und den berühmten Palmenstrand Playa Sirena. Am Riff, wo wir beim Schnorcheln im glasklaren Element auf farbenprächtige Korallen, bunte Fische und vereinzelt auf Rochen stoßen, liegt ein etwa 14 Meter langes Schiffswrack - und gleich daneben etwas, das aussieht wie das Stück eines Daches. Es muss das Relikt eines jener Hotels sein, die am 4. November 2001 vom Hurrikan Michelle dem Erdboden gleichgemacht wurden. Wirbelstürme sind im Herbst normal in der Karibik, fast alle ziehen über Cayo Largo hinweg - ein großes Problem für diese Insel. So sind im Frühjahr 2003 von den ehemals sieben Häusern erst drei wieder intakt. Ab diesem Jahr bleiben die Hotels im September und Oktober vorsichtshalber ganz geschlossen - man möchte nicht schon wieder Hunderte Touristen vor einem Sturm in Sicherheit bringen müssen. Uns allerdings holt ganz regulär der deutsche Urlauber-Jet ab, der hier alle 14 Tage landet. Im Gepäck haben wir Rum, Zigarren - und natürlich eine Musikcassette mit dem Che-Guevara-Lied. Denn was wäre Kuba eigentlich ohne den Hauch von Revolutionsromantik?