“Die Ausnahme wird zur Regel.“ Ärzte registrieren eine deutliche Zunahme von Patienten zwischen 18 und 25 Jahren.

Bargfeld-Stegen. Sie sehen keine Perspektive mehr in ihrem Leben, weil sie arbeitslos sind oder im Job gemobbt werden. Oder leiden derart unter Stress, dass ihnen die Belastung unerträglich erscheint - das sind nur einige Gründe, warum eine steigende Zahl junger Menschen zu Alkohol oder Beruhigungsmitteln greift. "Eine Flucht mit Kurzzeitwirkung und fatalen Folgen", sagt Peter Hans Hauptmann, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Heinrich-Sengelmann-Krankenhaus in Bargfeld-Stegen. Der Experte warnt: "Viele rutschen in die Abhängigkeit." Besonders erschreckend laut Hautmann: "Vor drei Jahren waren Patienten im Alter von 18 bis 25 Jahren die Ausnahme. Heute ist das die Regel."

Seit etwa einem Jahr registrieren der Oberarzt und die Mitarbeitern der Entzugsstation für legale Drogen eine Trendwende. Hauptmann: "Früher nannten die Menschen Probleme mit dem Ehepartner als Grund für Alkoholkonsum. Heute sind es die Belastungen am Arbeitsplatz oder Perspektivlosigkeit." Wirtschaftlich unsichere Zeiten verstärkten diese Entwicklung: "Viele Menschen, die beispielsweise als Zeitarbeiter angestellt sind und danach wieder gehen müssen, fallen in ein tiefes Loch", sagt Hauptmann. Einige Menschen flüchteten vor der Realität, beginnen mit dem Trinken. Eine Abhängigkeit sei in solchen Fällen programmiert. "Wir gehen davon aus, dass nur fünf bis zehn Prozent aller Alkoholkranken eine fachliche Behandlung erfahren", sagt der Arzt: "Menschen, die an solch einer Krankheit leiden, sind in unserer Gesellschaft stigmatisiert. Es fehle häufig die Akzeptanz." Viele Suchtkranke trauten sich nicht, einen Arzt aufzusuchen, aus Scham. "Zudem gebe es Hausärzte, die anhand von Laborergebnissen sehen müssten, dass ihr Patient alkoholkrank sei. Doch in Zeiten, in denen Patienten nur noch durchgeschleust werden, fehlen häufig die 20 Minuten, um sich mit dem Patienten zu unterhalten." Die Betroffenen müssten selbst erkennen, dass sie krank sind und fachmännische Hilfe brauchen. Hauptmann: "Dass die Akzeptanz für diese Krankheit meist fehlt, zeigt sich in Alltagssituationen. Manche verstehen nicht, warum jemand beim Fußballgucken kein Bier trinken möchte. Und dieser Mensch muss sich dann auch noch Sprüche anhören."

95 Prozent der Patienten, die in der Station für legale Drogen einen Entzug machen, sind alkoholkrank. Die Restlichen sind abhängig von Medikamenten. "Dies sind in erster Linie Beruhigungsmittel oder angstlösende Medikamente", sagt Hauptmann. Zwar richten solche Medikamente im Körper keinen vergleichbaren Schaden an wie Alkohol. Doch sie führte häufig zur Abhängigkeit. Das Fatale: Um den gewünschten Effekt zu erreichen, müsse eine immer höhere Dosis eingenommen werden. "Zudem büßen die Menschen ihr Reaktionsvermögen ein, stehen eher neben sich", sagt der Mediziner. "Sie sind irgendwann nicht mehr in der Lage, ihr Leben selbst zu regeln." Beruhigungsmittel oder angstlösende Medikamente dürften nur über einen kurzen Zeitraum eingenommen werden. "Einige Patienten gehen dann aber einfach zum nächsten Arzt - und der verschreibt wieder", sagt Hauptmann. "Oder der Patient bestellt sich die Mittel über das Internet im Ausland." Ein Entzug, beispielsweise bei Valium, sei besonders schwer. "Für die Patienten ist dieser viel schlimmer als der von Heroin", sagt der Fachmann: "Die Menschen bekommen schwere Albträume, Schlafstörungen. Sie leiden an Angstzuständen und haben Suizidgedanken."

Rund 550 Patienten werden im Heinrich-Sengelmann-Krankenhaus jedes Jahr wegen Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit behandelt. Leider oft ohne Erfolg. Denn etwa die Hälfte aller Patienten wird rückfällig. "Das gehört zum Krankheitsbild dazu", sagt Hauptmann. "Den Menschen muss klar werden, dass ein Rückfall selbst nach 30 Jahren nicht ausgeschlossen ist." 60 Prozent der Patienten kommen aus Hamburg, die anderen aus Stormarn. Jeden Tag werden 24 Patienten behandelt, die sich einer dreiwöchige Alkohol- oder Tablettenentwöhnung unterziehen. Zählt man die Entzugsstation für illegale Drogen (Heroin, Kokain, etc.) dazu, sind es täglich rund 70 Patienten. Vier von fünf dieser Patienten kommen aus Hamburg, die übrigen aus Stormarn. Im Unterschied zu der Entwicklung bei den Alkohol- und Medikamentenabhängigen zählt bei den Drogensüchtigen eine wachsende Zahl älterer Menschen zu den Patienten in Bargfeld-Stegen. Experte Peter Hans Hauptmann erklärt das so: "Heroinabhängige werden heute mit der Ersatzdroge Methadon behandelt. Im vergleich zu früher leben solche Patienten heute länger."