Nach dem Zugunglück nahe Reecke erhebt ein Zeuge Vorwürfe gegen die Bahn. Ein rotes Warnlicht soll nicht zu sehen gewesen sein.

Hamberge/Lübeck. Drei Tage nach dem schweren Zugunglück auf der Bahnstrecke Hamburg-Lübeck, bei dem nahe der Stormarner Randgemeinde Hamberge acht Menschen verletzt wurden, erheben Zeugen schwere Vorwürfe gegen die Bahn. Landwirt André Fennert, der zum Zeitpunkt des Unglücks vor Ort war und durch sein beherztes Eingreifen das Leben eines Menschen gerettet hat, sagt: "Ich habe vor dem Zusammenprall des Zuges mit dem Traktor kein rotes Warnlicht gesehen. Und die Schranken gingen unvermittelt runter." Ein Beinahe-Unfall des Wesenberger Landwirts Thomas Schmahl im September 2008 stützt die Angaben Fennerts. Als Schmahl den Bahnübergang Rosenhagen queren wollte, habe es ebenfalls kein rotes Warnlicht gegeben. Die Schranken hätten sich gesenkt, als er mit seinem Fahrzeug mitten auf den Gleisen gestanden habe. Er habe Gas gegeben und eine Schranke beschädigt, um einen Zusammenprall mit einem Zug zu verhindern. Und obwohl er den Vorfall bei der Bundespolizei angezeigt habe, habe er von dort bis heute nichts gehört. Er und sein Kollege Fennert sind sich einig: "An den Übergängen herrscht ständig Lebensgefahr."

Der Schock über das Zugunglück steckt den Menschen in Hamberge und Reecke noch in den Gliedern. André Fennert hat das Erlebte noch nicht verarbeitet. Er stand am Dienstagmorgen gegen 11.45 Uhr am Bahnübergang Billerbäckweg in Reecke, als auf der gegenüberliegenden Seite der Landarbeiter Tobias F. mit seinem Traktor und dem Schlepper auf den Bahnübergang bog. Mit Fennert im Auto saß dessen Frau Stefanie. Sie ist im siebten Monat schwanger. Plötzlich senkten sich die Schranken. Der Traktorfahrer stand mitten auf dem Übergang. "Tobias starrte mich an. Er war wie versteinert", sagt Fennert. Er behielt die Nerven, sagte zu seiner Frau "Lauf weg", rannte selber auf den Bahnübergang und schrie den Fahrer an: "Spring raus!" Die beiden konnten sich gerade noch hinter die Schranke retten, da krachte der Zug auch schon in den Traktor. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall, der noch vier Kilometer weit zu hören war. Fahrzeugteile flogen umher, Flammen schossen in den Himmel, die Luft war voller Rauch. Stefanie Fennert stürzte beim Weglaufen, die Wehen setzten ein. Fennert wählte mindestens vier Mal die Notrufnummer. "Es hat ziemlich lange gedauert, bis die Rettungskräfte vor Ort waren", sagt er. Seine Frau wurde ins Krankenhaus gebracht. Fennert selbst sei auf die Gleise gelaufen und habe die Zuggäste beruhigt, die zum Teil verwirrt umhergelaufen seien. "Am Dienstag hat der liebe Gott viele Schutzengel über die Gleise fliegen lassen", sagt er.

Wie konnte es zu dem Unfall kommen, bei dem nur wie durch ein Wunder kein Mensch zu Tode kam? Eine Verkettung unglücklicher Umstände? Hatte der Traktorfahrer die Kurve zu eng genommen? André Fennert schließt das aus. "Tobias F. ist ein sehr routinierter Schlepperfahrer, der den Weg in- und auswendig kennt", sagt er. Oder war ein technischer Defekt Ursache des Unglücks? Fennert wiederholt: "Ich habe kein rotes Warnlicht gesehen. Die Schranken gingen unvermittelt runter." Bahnsprecher Egbert Meyer-Lovis sagt auf Nachfrage: "Solange die Ermittlungen noch andauern, nehmen wir dazu keine Stellung." Für Bahnübergänge gebe es klare Vorgaben des Eisenbahnbundesamtes. Die Taktung am Bahnübergang in Reecke sei rechtlich fixiert. Die Vorwürfe, da sei etwas nicht in Ordnung, seien sachlich falsch.

Auch für Stefan Bertelsen, Landwirt aus Lübeck-Wulfsdorf, bei dem Tobias F. angestellt ist, steht fest: "Die Übergänge sind lebensgefährlich. Die Taktung muss geändert werden." Das fordert auch André Fennert. "Lieber stehen wir fünf Minuten an der Schranke, als dass ein Mensch zu Tode kommt", sagt er. "Das sollte kein Kapitalaufwand für die Bahn sein, das zu ändern." Von der ermittelnden Lübecker Polizei war trotz mehrfacher Nachfrage gestern keine Stellungnahme zu bekommen.