Kritik von Wedeler Schulleiter: Die Regelbeschulung behinderter Kinder sei der als falsche Weg. Kollegen widersprechen.

Wedel. Antonius Soest schlägt Alarm. In scharfen Worten kritisiert der Leiter der Wedeler Gebrüder-Humboldt-Schule die Art und Weise, wie gegenwärtig Kinder mit besonderem Förderbedarf in die Regelschulen integriert werden sollen. In Fachkreisen läuft das Ganze unter dem Oberbegriff "Inklusion" - als Gegenentwurf zur sogenannten Exklusion. Das Gesetz, das seit 2010 in Schleswig-Holstein umgesetzt wird, basiert auf der 2009 in Kraft getretenen Uno-Behindertenrechtskonvention. Sie besagt, dass keine Kinder vom Schulbesuch ausgesondert werden dürfen. Ob lernbehindert, körperlich oder geistig behindert - allen muss der Besuch einer Regelschule ermöglicht werden.

Soests Kritik, die er bei einem Informationsabend zu diesem Thema an der Humboldt-Schule vor annähernd 100 Eltern, Lehrern, Politikern und Verwaltungskräften äußerte, macht auch deshalb hellhörig, weil er üblicherweise in vorderster Front für integrative Schulkonzepte eintritt und sie an seiner Gemeinschaftsschule seit Jahren erfolgreich umsetzt.

+++ Hamburg Spitze bei Schulintegration Behinderter +++

Grundsätzlich sei die Integration aller Kinder zu begrüßen, sagte Soest. Zumal eine wirklich inklusive Schule das Ende des mehrgliedrigen Schulsystems bedeuten würde. Doch sinnvolle Integration setze eine intensive Betreuung durch Lehrkräfte, Sonderpädagogen und Erzieher voraus. "Das Zauberwort der Pädagogik heißt Individualisierung", sagt Soest. "Das bedarf sonderpädagogischer Kompetenz, Sensibilität und Zuwendung. Es ist keine Diskriminierung von Kindern, ihren Förderbedarf genau zu kennen. Wer so denkt, will nur sparen."

Genau das wittert Soest nämlich hinter der Integration von Kindern mit Förderbedarf in die Regelschulen. Seiner Erfahrung nach spare das Land bereits seit Jahren an der Ausstattung der einst modellhaften Integrationsklassen (I-Klassen), in denen auch heute Kinder mit und ohne Förderbedarf gemeinsam unterrichtet werden.

Die neun Förderzentren der Kreises Pinneberg für körperlich und geistig behinderte Kinder in Barmstedt, Appen, Quickborn, Wedel, Pinneberg, Rellingen, Elmshorn und Uetersen verlören als wichtige Lernorte an Bedeutung. Das sei nicht nur für die betroffenen Kinder und ihre Familien eine Tragödie, sondern auch für die nicht behinderten Mitschüler. Denn ohne entsprechende fachpersonelle, konzeptionelle und räumliche Ausstattung zerstöre das gemeinsame Unterrichten sehr unterschiedlicher Schüler auch bislang funktionierende Integrationsklassen.

"Inklusion ist keine selbstverständliche Folge von Integration", sagte Soest. Damit sie gelinge, dürfe eine Klasse nicht mehr als 20 Kinder umfassen, von denen maximal vier einen Förderbedarf hätten. Integration funktioniere nur, wenn die beteiligten Klassen sozial stark und leistungsfähig seien. Und wenn grundsätzlich zwei Pädagogen gemeinsam die Klasse unterrichteten. Ohne entsprechende Ausstattung führe dieser Weg die geplante gleichberechtigte Teilhabe aller Kinder ad absurdum. Sie werde zur "Exklusion unter dem Deckmantel der Inklusion". Auch nicht behinderte Kinder litten im Ergebnis unter einem schlechten Lernklima. Soest verwies auf die schlechten Erfahrungen mit diesem Konzept in Hamburg und Nordrhein-Westfalen. "Dort demonstrieren die Eltern mittlerweile dagegen."

"Mit der Inklusion findet eine pädagogische Revolution statt, und keiner merkt es", sagte Soest. Es sei höchste Zeit, dass sich die Schulen zu Wort meldeten, die die Integrationsarbeit leisten sollen. Als Sparmaßnahme laufe sie auf die Missachtung von Kindern mit Förderschwerpunkten hinaus. Soest zitierte den früheren Hamburger Schulsenator Jörg Draeger, heute Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung. "Inklusion muss scheitern, wo die Länder sie als Sparmodell betrachten", schreibt Draeger in einer Untersuchung der Stiftung.

Die Erfahrungen von Doris Sander, Lehrerin an der Pestalozzi-Schule, stützen Soests Thesen. "Die Inklusion wird uns ganz schnell übergestülpt, uns wird keine Zeit gelassen." In Schleswig-Holstein stehe ein Großteil der Förderzentren vor der Auflösung. "An Regelschulen kann kein entsprechender Unterricht gewährleistet werden."

Ganz andere Erfahrungen hat Sonderpädagogin Astrid Zimmermann-Vollstedt, seit 20 Jahren Leiterin des Förderzentrums Pinneberg Heinrich-Hanselmann-Schule, gemacht. Sie widerspricht Soest und der Wedeler Kollegin vehement. "Ich finde die Inklusion absolut richtig. Es ist ein Menschenrecht, an Bildung teilzuhaben." Zwar werde die Integration nicht an allen Standorten gleich gut umgesetzt, aber Qualitätsunterschiede seien normal. "Wir geben uns große Mühe, und an den meisten Schulen läuft es sehr gut." Auch von Kaputtsparen könne keine Rede sein: "Unser Personalschlüssel ist seit 15 Jahren unverändert."

Zurzeit besuchen noch 30 Schüler der Klassenstufen sieben bis neun das Förderzentrum in Pinneberg. Nach den Sommerferien wird es nur noch die neunte Klasse sein. Erklärtes Ziel der Schulleiterin ist es, alle Schützlinge in Regelschulen zu integrieren. Natürlich unterstützt von den 32 Sonderpädagogen, die am Pinneberger Förderzentrum arbeiten. Sie schwärmen jeweils an die Regelschulen aus, die die ehemaligen Hanselmann-Zöglinge besuchen. "Wir verstehen uns als Dienstleistungsunternehmen für sonderpädagogische Unterstützung", sagt Astrid Zimmermann-Vollstedt.

Auch Michael Doppke, Schulrat des Kreises Pinneberg, widerspricht Soests Einschätzung: "Die Förderzentren werden nicht aufgelöst." Es veränderten sich allerdings die Strukturen. "Früher hatten wir eine Lernbehindertenschule. Das gibt es nicht mehr." Jetzt werde geguckt, an welchem Ort das jeweilige Kind am besten gefördert werden könne: an einer integrativen Regelschule, einer Sonderschule oder einem städtischen Förderzentrum. Im Übrigen sei die geforderte Integration in Schleswig-Holstein im Bundesvergleich weit gediehen. Mehr als 50 Prozent aller Kinder mit Förderbedarf besuchten bereits eine Regelschule. Die Bedeutung der Förderzentren wandle sich.

Aus festen Lernorten würden Zentren, an denen die Kinder nicht mehr täglich und dauerhaft unterrichtet würden. Stattdessen kämen sie nur bei Bedarf zu einer zeitlich begrenzten Intensivschulung als Ergänzung zum Regelschulunterricht dorthin. Doppke verteidigt die Integrationspolitik des Bildungsministeriums. Mit präventiven Maßnahmen und beispielsweise flexiblen Eingangsklassen an den Grundschulen sowie den ebenfalls auf drei Jahren gestreckten Ausgangsklassen im Hauptschulbereich habe man auch Schülern mit mehr Förderbedarf erfolgreiche Schulkarrieren ermöglicht.