Vor der Verhandlung werden die Prozessbeteiligten besucht. Nur vor dem Täter werden die Jungen und Mädchen abgeschirmt.

Elmshorn. Die Hände des Mädchens sind kalt und feucht und zittern. Annika (Name geändert) knetet das Mini-Kuscheltier, das ihr die beste Freundin als Talisman für den schweren Gang geschenkt hat. Noch ein paar Minuten und dann wird die Vierzehnjährige in den Gerichtssaal gerufen. Dort soll sie ihren Peiniger sehen. Gegen ihn muss Annika aussagen. Sina Mabic streicht dem Mädchen noch mal sanft über den Rücken und schaut es an: "Ich werde mich so neben Dich setzen, dass Du ihn nicht angucken kannst", sagt die Prozessbegleiterin. "Wie wir es besprochen haben." Annika entspannt sich und nickt. "Das schaffe ich."

Wenn Opfer einer Straftat als Zeugen vor Gericht aussagen müssen, haben sie fast immer Angst. Angst vor dem Anblick des Täters. Angst vor fremden Menschen wie Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte. Angst vor Fragen zur Tat. Die Seelen von Kindern und Jugendlichen leiden besonders stark. Vor Jahren ist den Gerichten klar geworden, dass ängstliche Zeugen in Verhandlungen nur bedingt nützlich sind. "Es passiert sogar, dass Kinder vor Angst den Mund nicht aufmachen und überhaupt nicht sprechen können", weiß Sina Mabic vom Elmshorner Opferschutzverein "Wendepunkt". Das schleswig-holsteinische Justizministerium hat daher 1995 als erstes Bundesland ein Zeugenbegleitprogramm installiert, das in der Bundesrepublik bis heute als Vorzeigeprojekt gilt.

Für den Landgerichtsbezirk Itzehoe - und hier vor allem in den Kreisen Pinneberg und Steinburg - beauftragte das Justizministerium vor 14 Jahren den Opferschutzverein Wendepunkt in Elmshorn mit der Vorbereitung und Begleitung von Zeugen zum Gericht. Seit dem hat das Wendepunkt-Team aus Diplom- und Sexualpädagogen 400 Kinder, Jugendliche und einige Erwachsene als Opfer von Gewalt- und Sexualstraftaten bei ihrem schweren Gang ins Gericht begleitet.

"Dabei geht es nicht um den Tathergang", sagt Diplom- und Sexualpädagogin Sina Mabic. Im Gegenteil: "Wir dürfen gar nicht wissen, was passiert ist. Wüssten wir es, wären wir selber Zeugen."

Die Wendepunkt-Mitarbeiter bereiten die Zeugen auf das vor, was im Gerichtssaal passiert. "Vor der Verhandlung schauen wir uns das Gerichtsgebäude und den Gerichtssaal an. Wir erklären, wer wo sitzt und welche Aufgaben ein Richter, ein Staatsanwalt, ein Verteidiger oder der Anwalt der Nebenklage hat und wer wann fragt", so Sina Mabic. Meistens lernten die Zeugen vor den Verhandlungen die Richter kennen. "Wenn Kinder und Jugendliche sehen, dass der nicht dem Fernsehtypus des finster dreinblickenden und schwarz gekleideten Mannes mit Perücke entspricht, sind sie sehr erleichtert."

Die Zeugenbegleiter klären auch ganz simple Fragen, die die Nervosität ihrer Schützlinge unmittelbar vor der Verhandlung enorm lindern kann. Wo ist die Toilette? Wo der Kakaoautomat? Wie sieht es im Warteraum aus? Darf ich ein Kuscheltier mit in den Gerichtssaal nehmen?

Der Kontakt mit den Angeklagten sei die größte Angst aller Zeugen. "Manchmal bin ich nur zum Handhalten dabei." Ganz wichtig: Bei der Zeugenbegleitung der jungen Opfer sind die Eltern immer mit einbezogen."

Die komplette Begleitung nimmt etwa 15 bis 25 Stunden in Anspruch. "Je nach psychischer Belastung ist manchmal auch eine Nachbereitung nötig", so Sina Mabic. "Zum Beispiel, wenn ein Täter freigesprochen wird und die Opfern nicht verstehen, warum."

Annika war mit ihrer Mutter vor einem guten Jahr zum Wendepunkt Elmshorn gekommen. Die Adresse hatte ihnen die Kriminalpolizei gegeben, nachdem Annika einen ehemaligen Bekannten der Mutter wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt hatte. Fast neun Monate hat Sina Mabic das Mädchen begleitet. "Wir haben niemals über die Tat selber gesprochen, nur die Verhandlung vorbereitet. Annika hat sogar den Richter vorab kennen gelernt. Das hat ihr sehr geholfen." Der Täter wurde mit Hilfe Annikas klarer Aussage zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährungsstrafe verurteilt. "Annika war zufrieden mit dem Ausgang. Ganz wichtig für sie war, dass das Gericht ihr geglaubt hat."