Heiligabend vor einem Jahr fing die acht Jahre alte Lena bei einem Krippenspiel in Bad Segeberg Feuer. Sie überlebte - schwer verletzt.

Na? Wer ist das?" Ralf B., 54, hat ein Foto aus einem Album gezogen. Ein Mädchen ist zu sehen, etwa sechs oder sieben Jahre alt, irgendwo am Ostseestrand. Blauer Himmel, Sonne, der Seewind streicht durch ihr hellblondes Haar. Das Mädchen mit dem hellen Teint blinzelt durch das grelle Sonnenlicht in die Kamera. Forschend, neugierig, naiv. "Das ist Lena." Es liegt viel Liebe im Blick des Vaters auf dieses Foto.

Es ist nicht lange her, da konnten weder er noch seine Frau Gisela, 46, diese Fotos ertragen. Und der Mutter fällt es immer noch schwer. "Es gibt diese Lena nicht mehr. Sie ist nur eine Erinnerung. Lena ist jetzt eine andere", sagt die Mutter. "Und ich bin froh und glücklich, dass ich sie noch habe."

Und da kommt sie. Mitten hinein in die Gemütlichkeit des hübsch ausgebauten ehemaligen Bauernhauses der Familie B. in Blunk bei Bad Segeberg. Lena, 8, flitzt aus ihrem Kinderzimmer in die Küche. Im Hintergrund dröhnt ein "Drei Ausrufezeichen"-Hörspiel. Sie soll mal eben Hallo zum Besuch sagen. "Hallo", sagt sie, gibt zaghaft die Hand, lächelt verlegen, aber fröhlich und spielt mit der Zunge an ihrem siebten Wackelzahn, der bald fällig ist.

Wenn man gerade alte Bilder der sehr blonden Lena am Ostseestrand gezeigt bekommen hat, fallen einem zunächst Lenas Haare auf. Sie sind nun ganz dunkel. Unter dem Pony lachen aber noch immer dieselben vorwitzigen Augen. Wie es tatsächlich um ihre Gemütslage bestellt ist, lässt sich nach allem, was passiert ist, schwer sagen. Was ihr die Flammen an der Oberfläche angetan haben, davon zeugt das wulstige Narbengewebe rund um den Mund. Die verbrannten Hautpartien auf der Brust, an den Armen und Händen sind durch einen Kompressionsanzug verdeckt. Eine elastische, blaue Zweithaut aus Stoff, innen mit Silikon beschichtet. Sie hält das Narbengewebe flach. Lena trägt die Zweithaut rund um die Uhr. Am Hals würde sie dem Kind die Luft abdrücken. Deswegen wird sie dort von einem dicken Kragen ersetzt, der Lenas Kinn gemeinsam mit einer über den Kopf gespannten Manschette nach oben drückt und so die Haut gespannt hält. Nachts im Bett kommt noch eine Gesichtsmaske hinzu. "Lena beklagt sich nie. Sie trägt all diese Sachen klaglos und ist unheimlich tapfer", sagt Gisela B.

Lena hört das Lob der Mutter und lächelt stumm. Dann schiebt sie sich einen Keks in den Mund und verschwindet, eine Melodie summend, in ihrem Kinderzimmer. Sie muss noch ein paar Hausaufgaben für die Schule erledigen. Die Szene wirkt so normal und alltäglich. In einer Familie, die seit dem Heiligabend 2011 keine Normalität mehr kennt.

Es wäre für die Familie leichter, wenn es einen Schuldigen gäbe

"Ich erlebe das immer wieder. Die Bilder kommen unvermittelt. Ich sitze in der vollen Kirche bei der Weihnachtsmesse, habe feuchte Augen. Dann die Schreie, der Schock. Und die Tränen werden bitter", sagt Ralf B. Die Erinnerung als Horrorfilm vor seinem geistigen Auge. Lena als Lämmchen beim Krippenspiel der katholischen Johannes-Kirchengemeinde. Das Kostüm, selbst gebastelt, mit Watte als Lammfell. Die festlichen Kerzen. Die vielen Menschen. Die Enge. Weihnachtslieder. Dann ein Feuerschein, eine regelrechte Explosion, Schreie. Lena, das Lämmchen, ein Feuerball, entzündet an einer Kerzenflamme. Mutter, Vater und Lenas Schwester Hanna, 15, als schockstarre Zeugen, wie ein mutiger Mann sich auf das brennende Mädchen wirft, sie mit einem Mantel bedeckt und ablöscht. Und wie der Vater aus der Klinik, wo Lena um ihr Leben kämpft, nach Blunk fährt, wo die nichts ahnende Verwandtschaft unter dem Weihnachtsbaum auf die Kirchgänger wartet.

Ralf B. sitzt mit gesenktem Blick am Esstisch und knetet seine Hände. "Du stellst dir Fragen nach dem, was du hättest tun können, zu deiner Verantwortung. Fragen, auf die du keine Antworten findest." Als ob sie ihrem Mann eine Last nehmen möchte, sagt Gisela B.: "Ich bin doch die Gläubige in der Familie. Ich habe dich und die Kinder mit in die Kirche geschleppt."

Es wäre für die Familie leichter, wenn es einen Schuldigen gäbe, an dem sie ihre Wut auslassen könnte. Polizei und Staatsanwaltschaft haben monatelang ermittelt. Gegen den Pfarrer der Johannes-Gemeinde und eine Gemeindemitarbeiterin wegen fahrlässiger Körperverletzung. Gegen einen Arzt der Segeberger Kliniken, der beim Krippenspiel dabei war und der laut Zeugen nichts unternahm, um Lena zu retten. Doch die Kieler Oberstaatsanwältin Birgt Hess hat die Verfahren eingestellt: "Es war wohl eine unglückliche Verkettung von Umständen, ein tragischer Unfall."

Ralf B. befriedigt das nicht. "Wir wissen, wie es passiert ist. Doch Nachtreten macht keinen Sinn, es hilft Lena nicht. Für mich aber ist klar: Wenn die Verantwortlichen besser aufgepasst hätten, wenn es in dieser vollen Kirche kein offenes Feuer gegeben hätte, wäre das alles nicht passiert."

Die Prognosen der Ärzte des Kinderkrankenhauses Wilhelmstift in Hamburg waren zunächst düster, während Lena die ersten zehn Tage nach dem Unfall im Koma lag. "Was wir da zu hören bekamen, war so niederschmetternd, dass wir psychologische Betreuung brauchten", sagt Gisela B. Lena kämpfte wie ein Löwe um ihr Leben. Und sie siegte. "Die Ärzte haben fantastisch gearbeitet", sagt Ralf B. Nach über fünf Wochen im Wilhelmstift kam Lena nach Hause und die Familie in ihrem neuen Leben an. Alles drehte sich um Lenas Haut. "Ihr ganzer Körper war von Schorf überzogen", sagt die Mutter. Nicht nur die verbrannten Stellen der Haut schmerzten, sondern auch die Flächen, an denen Haut zur Transplantation abgenommen worden war. Lena brauchte die Schmerzmittel, um das zu ertragen. Aus Lena wurde ein Morphium-Junkie. Als die "Hammerteile" abgesetzt werden konnten, dauerte Lenas Entzug nächtelang. Das Mädchen bekam Krampfanfälle, schrie, hatte schlimme Stimmungsschwankungen. Dazu machte sie der Juckreiz auf der Haut fast wahnsinnig. Die schlaflosen Nächte, Lena leiden zu sehen, das machte auch die Eltern und die Schwester fertig. "Du denkst, das schaffst du nicht. Doch dann bekommst du diesen Tunnelblick. Und dann schaffst du es plötzlich", sagt der Vater.

Gisela B. kümmert sich in Vollzeit um ihre Tochter

Gisela B. verwarf nach dem Unfall ihre Pläne, wieder als Tierärztin zu arbeiten. Sie kümmert sich bis heute in Vollzeit um die Tochter. Ihr Alltag ist von Pflege-Ritualen und Terminen getaktet. Er beginnt um 5.30 Uhr. Kompressionsanzug ausziehen, Haut eincremen und massieren und dann wieder rein in die Zweithaut. Das wiederholt sich abends vor dem Schlafengehen. Gisela B. fährt oft mit Lena in die Schule. Zum Beispiel hilft sie ihr im Schwimmunterricht beim An- und Ausziehen des Anzugs. Aber sie schnappt sich auch mal blöde Jungs auf dem Schulhof, die Lena "Monster" hinterherrufen. Oder sie hilft anderen Mitschülern, die Angst vor Lena haben, zu verstehen, was mit ihr geschehen ist. "Lena geht durch all diese Situationen geradewegs hindurch. Sie ignoriert das völlig und redet nicht darüber." Auch zum Unfall schweigt das Kind. "Obwohl Lena sich an jedes Wort erinnert, das in jener Nacht fiel und genau weiß, wie sie gejammert hat, bis sie im Krankenhaus die Betäubung bekam."

Freizeit bleibt kaum. Wenn andere Kinder spielen gehen, warten auf Lena der Physiotherapeut und der Psychologe. Und zwar in Hamburg. 300 Euro Fahrtkosten, jeden Monat, sagt Ralf B. "Und als ob wir nicht genug Probleme hätten, sind wir nun auch noch in die Mühlen zwischen Krankenkasse und Berufsgenossenschaft geraten." Lena war zum Zeitpunkt des Unfalls eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der Kirche - deswegen ist die Berufsgenossenschaft (BG) der Hauptkostenträger. Manche Leistungen übernimmt aber auch die Krankenkasse. Was die BG dann wieder gegenrechnet. "Wir müssen jede Leistung beantragen, alles wird kurzfristig entschieden. Der Ton ist scharf, es ist ein Gegen- und kein Miteinander. Wir können uns nie sicher sein, dass eine für Lena wichtige Behandlung auch wirklich übernommen wird. Vieles legen wir einfach aus", sagt Gisela B.

Die Mutter hat Angst vor der Zukunft. Lena wird mit zunehmendem Wachstum viele Operationen an ihrer Haut durchmachen müssen. Was davon wird als medizinisch notwendig eingestuft werden? Und was nur als ästhetisch wünschenswert? "Soll ich dann Lena sagen: Schatz, wir würden dein Kinn gerne schöner machen. Aber uns fehlt das Geld?" Natürlich hilft es, dass so viele Leute vom Schicksal Lenas berührt waren und spendeten. Die Kirchengemeinde schickte mehrere Tausend Euro. In Blunk wurde der Erlös eines Schlittenrennens komplett der Familie B. überwiesen. "Wir sind unendlich dankbar für das Geld. Es liegt auf einem Extra-Konto. Und manches haben wir davon für Lena schon bezahlt", sagt der Vater. Der Anwalt der Familie verhandelt unterdessen mit dem Erzbistum Hamburg über eine Entschädigungszahlung. Dazu schweigen aber beide Seiten.

Kerzen und Menschenansammlungen gehören nicht zusammen, sagt Ralf B.

Dass die Familie B. so offen über ihr Schicksal berichtet, habe nur einen Grund. Es soll nie wieder geschehen. Ralf B. stellt eine LED-Kerze auf den Tisch. "Sie riecht sogar nach Bienenwachs. Die gibt's im Baumarkt. Echte Kerzen und Menschenansammlungen gehören nicht zusammen." Er vermisst die breite Diskussion darüber in der katholischen Kirche, in deren Liturgie die Kerze eine zentrale Rolle spiele. Das sichtbare Verzehren der Kerze durch die Flamme gilt als Symbol der Liebe Christi bis zu seinem Tod. In der Segeberger Johannes-Kirche werden an Weihnachten trotzdem keine Kerzen brennen. Sie ist die erste Gemeinde des Bistums ohne offenes Feuer, wie Bistums-Sprecher Manfred Nielen mitteilt. Dort hängen neuerdings auch Brandschutzdecken an den Wänden. Die Notausgänge wurden besser beleuchtet. Und die Gemeinde informierte sich bei einer Brandschutzübung mit der Feuerwehr über den Umgang mit Feuerlöschern.

Erzbischof Werner Thissen sagt, er denke oft an Lena und er sei immer noch betroffen über die Folgen. "Und ich fühle mit den Eltern, die in Sorge sind, ob alles gut weitergeht." Das Erzbistum hat eine Brandschutz-Broschüre an alle Kirchen verteilt. Ein Brandschutzbeauftragter berate die Kirchen vor Ort. "Das fördert die Sensibilität für den Umgang mit offenem Feuer. Und ich bin sicher, dass auch die umfangreiche Medienberichterstattung dazu beiträgt, die Gefahren im Blick zu behalten", sagt Thissen.

Ralf B. hat die Gefahr ständig im Blick. Er sei der totale Gefahrensucher geworden, sagt er. Wittere hinter jedem Supermarktregal Feuergefahr. Kein Theater, kein Kino kann er betreten, ohne laufend über die Lage der Notausgänge nachzudenken. "Menschenmengen und jemand schreit - und sei es auch nur aus Spaß - das halten ich und meine Frau nicht aus", sagt Ralf B. Die große Tochter Hanna leidet unter Angstzuständen, kann tageweise nicht zur Schule gehen. Der Gedanke an Weihnachten verursacht bei Hanna Panik. Lena hingegen freue sich ganz kindlich auf das Fest der Geschenke. "Obwohl ich nicht weiß, wie sie regieren wird, wenn in der Schule die Kerzen auf dem Adventskranz brennen", sagt Gisela B.

Im kommenden Jahr will Familie B. mit einer Familientherapie beginnen

Ein Jahr nach dem Unfall erkennen die Eltern und Hanna, wie selbstvergessen sie sich um Lena gekümmert haben. In dem Maße, in dem nun stückweise so etwas wie Alltag in Lenas Leben einzieht, brechen die Narben auf den Seelen von Vater, Mutter und Schwester auf. "Wir sehen das ganze Leben und seine Gefahren anders, wir haben unsere Naivität komplett verloren. Unsere Alarmglocken schrillen ständig, aber um uns herum machen alle weiter wie bisher", sagt Gisela B. Schon aus Selbstschutz achte sie darauf, welche Menschen ihr gut tun und welche nicht. Erst kürzlich fragte eine Bekannte, ob sie mit Lena denn schon Laterne-Laufen war.

Die Angst vor dem Leben der anderen will die Familie B. demnächst in einer Familientherapie bekämpfen. Nach Weihnachten. "Denn wir werden irgendwohin flüchten, wo es kein Weihnachten gibt", sagt Ralf B.

Für die Familie wurde das Spendenkonto der Kirchengemeinde St. Johannes Bad Segeberg mit der Nummer 142 60 40 100 (BLZ 400 602 65) bei der Darlehenskasse Münster eingerichtet. Stichwort: Krippenspiel.