In der Geschichte “Frau outside“ thematisiert Horst Lysander Médo das Innenleben eines transsexuellen Mannes

"Herr Mayer, hören Sie zu?" Otto war kurz eingenickt und schwieg betreten, sah aber den Professor jetzt sehr aufmerksam an. Wie peinlich! Die erste Vorlesung im neuen Semester, und gleich pennte er weg. So wahnsinnig spannend war die Geschichte der Betriebssysteme wirklich nicht, also schweiften seine Gedanken bald wieder ab. Ob sein Schatz schon aufgestanden war? Nachmittags wollte Otto noch einen Anruf tätigen. Davon abgesehen würde er genug Zeit haben, im Buch nachzulesen, was er verpasst hatte.

"Mayer, schönen guten Tag, ich möchte ein Auto reservieren. Von Hamburg nach Hamburg, übers Wochenende 12. bis 14. November." Otto freute sich auf das gemeinsame Wochenende am Meer mit seinem Verlobten. Hannes hatte keinen Führerschein und bewunderte ihn, wenn er fuhr. Otto selbst fuhr sehr gerne Auto und auch gern schnell, wenn auch beides selten. Gelegentlich einen Mietwagen zu nehmen war für sie beide einfach wirtschaftlicher, als ein eigenes Fahrzeug zu unterhalten. Zudem war es bequemer, wenn man sich um all die lästigen Eigentümerpflichten nicht selbst kümmern musste. Nur ein Anruf bei der Autovermietung und man war vorübergehender Besitzer eines Kraftwagens.

"Wer einen Rock anhat, ist auch ein Mädchen"

"Gern, wie war der Name noch mal?" "Otto Mayer. Mit A und Ypsilon." "Ja, Frau Otto-Mayer, und der Vorname?" Hatte er undeutlich gesprochen? "HERR Mayer. Mein VORname ist OTTO." Spätestens jetzt war er sich sicher, dass es nicht auf eine eventuell am anderen Ende schlechtere Verbindung zu schieben war. "Ach so, Entschuldigung. Frau Herrmayer, wie ist Ihr Vorname?", flötete es. "HERR - OTTO - MAYER!", korrigierte er überdeutlich und unnötig laut, "Anrede: Herr! Nachname: Mayer! Vorname: Otto!" "Oh, Entschuldigung. Ich verstehe, Sie fahren also gar nicht selbst. Wen darf ich als Fahrer eintragen?"

"Darf ich mitspielen?", hatte Otto gefragt. "Wir spielen nicht mit Mädchen!" hatte der größere Junge gerufen. Otto hatte daraufhin gesagt: "Ich bin kein Mädchen!" Er hatte doch nur mit den anderen Jungs Fußball spielen wollen. "Natürlich bist du eins! Jungs ziehen keine Röcke an. Wer einen Rock anhat, ist auch ein Mädchen." Die anderen hatten gelacht, und Otto hatte an sich herabgesehen und trotz seiner seltsamen Bekleidung darauf beharrt, ein Junge zu sein. Von da an brachten ihn keine zehn Pferde mehr dazu, in die Schule einen Rock anzuziehen.

"Doch, ich fahre selbst.", sagte er jetzt ganz ruhig, "Otto Mayer, der bin ich." Stille in der Leitung. Er konnte das Tippen im Hintergrund hören. "Gut, dann gebe ich Ihnen jetzt die Reservierungsnummer, Herr Mayer." Er notierte sie, bedankte und verabschiedete sich und legte auf. Unschlüssig, was noch zu tun sei, sah Otto auf die Uhr. Es war erst halb vier. Hannes würde wie üblich noch bis zum späten Abend im Büro sein. Otto legte zwar keinen gesteigerten Wert darauf, vor die Tür zu gehen, aber das Brot war alle, und Hannes würde nachher welches essen wollen.

Also machte er sich auf den Weg zum Bäcker. Er brauchte nicht lange zu überlegen, denn vom Angeschobenen war noch etwas da, das war seine Lieblingssorte. "Die Dame?" Otto sah sich um: Er stand als einziger an der Theke. Die Verkäuferin sah ihn direkt an. "Die Dame", wiederholte sie, "Sie wünschen?" Ja, nenn mich nicht "Dame", dachte er. "Das Angeschobene bitte. Am Stück", bestellte er. "Sonst noch einen Wunsch?" Den kannst du mir eh nicht erfüllen. "Danke, nein."

Mädchen, Mädchen!", hatten sie laut gerufen und mit dem Finger auf ihn gezeigt. Otto schämte sich. Sie hatten es herausgefunden. Er klemmte sich das Brot unter den Arm und verließ den Laden. Er zündete sich eine Zigarette für den Weg an und wandte sich zum Gehen. "Kollege, haste mal Feuer?", sprach ihn ein Passant an. Otto hatte das Feuerzeug noch nicht weggesteckt und reichte es mit einem Lächeln weiter. "Klar." Das Leben ist schön. Vier Uhr.

Otto war wieder zu Hause angekommen, und seine Blase meldete sich langsam. Es war seit dem frühen Morgen das erste Mal, aber es hatte sicher noch eine, vielleicht auch zwei Stunden Zeit. Otto war gut im Training. Er hatte sich aus gutem Grund angewöhnt, tagsüber einzuhalten. Er ging nicht auf öffentliche Toiletten, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. In Schulen nicht und auch nicht in der Uni, wo er vormittags bei der Vorlesung war.

Otto hatte dringend gemusst. Er musste sich beeilen, die anderen suchten ihn bestimmt schon. Er war vor ihnen weggelaufen. "Das ist das Mädchenklo, da dürfen wir nicht rein." "Ach was, das merkt doch keiner." Der dicke Serkan war der Mutigste und hatte seine Kumpane überredet. Er stieg in der Nachbarkabine auf den Klodeckel, von da auf den Klokasten und lugte so über den Rand der Kabinentrennung. Otto saß da mit heruntergelassenen Hosen und versuchte notdürftig, seine Scham zu verdecken. Aber es war schon zu spät. "Hab ich's doch gewusst, das is'n Mädchen!"

Es machte ihn wütend, wenn er nicht wie ein Mann behandelt wurde

Er war verdammt noch mal kein Mädchen, keine Frau und erst recht keine Dame. Er war damals ein Junge gewesen und heute ein Mann. Er war es wirklich satt. Sein Körper sah - wohl auch weil er noch keine Operationen gehabt hatte - noch arg weiblich aus, und deswegen konnte er seinen Mitmenschen für eine versehentliche falsche Anrede keinen Vorwurf machen. Ihm würde es ja genauso gehen mit einer Fehleinschätzung auf den ersten Blick. Trotzdem machte es ihn wütend und traurig, wenn er nicht wie ein Mann behandelt wurde, sondern wie eine Frau, die ein Mann sein will.

Kommilitonen brachten es fertig, ihn mit "Otto" anzusprechen, in der dritten Person über ihn aber von einer "Sie" zu reden. Und das, obwohl er sich gleich als Otto bei ihnen vorgestellt hatte. Ein Tutor hatte auch einmal versehentlich "sie" gesagt; sich dann aber sofort korrigiert und selber nicht verstanden, wie er darauf gekommen war, und entschuldigte sich sofort. Da diesem die Situation noch unangenehmer war als Otto, tat er ihm schon wieder leid.

Mittlerweile hatte er alle Papiere auf "Otto Mayer" und konnte sich damit ausweisen, aber das reichte nicht aus. Otto bekam erst seit einem Jahr Testosteron, und die Hormone brauchten ihre Zeit, bis sie Wirkung zeigten. Eine normale, männliche Pubertät dauert etwa fünf Jahre. Das hatte sein Arzt ihm auch gesagt. Kommt Zeit, kommt Bart. Er musste nur Geduld haben.

"So, du willst ein Junge sein?" Otto schwieg. "Mädchen schlägt man nicht", erklärte Serkan. "Also such's dir aus: Bist du ein Junge oder ein Mädchen?" "Junge", antwortete Otto trotzig. "Dann musst du auch einstecken wie ein Junge." Von da an verfolgten die vier Otto jeden Tag in der Pause, schlugen, bissen, traten und bespuckten ihn. Das war es ihm wert, wie ein Junge behandelt zu werden. Also lag er zusammengekrümmt auf dem Boden und wartete, bis sie von ihm abließen.

Otto wusste nicht so recht, was er in sein Tagebuch schreiben sollte. Heute war ein ganz normaler Tag gewesen. Doch da fiel es ihm wieder ein. Der nette Mann, der ihn um Feuer gebeten hatte. Also schrieb er: Vorlesung besucht - Auto reserviert - Brot geholt - Passing gehabt

Anmerkung: Unter "Passing" wird hier verstanden, dass der transsexuelle Mann als Mann wahrgenommen wird.